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1Q84: Buch 3

1Q84: Buch 3

Titel: 1Q84: Buch 3 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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er gestern Morgen mit ihr telefoniert. Da war sie noch in der Wohnung gewesen. Am Abend war er mit den Krankenschwestern essen gegangen und hatte Kumi Adachi nach Hause begleitet. Eines war zum anderen gekommen, und er hatte es versäumt, sie anzurufen.
    In solchen Fällen hinterließ sie für gewöhnlich eine ihrer keilschriftartigen Nachrichten, doch diesmal fand er keine. Fukaeri war einfach so verschwunden. Tengo war davon weder besonders überrascht noch enttäuscht. Niemand konnte je vorhersagen, was Fukaeri dachte oder was sie tun würde. Wenn sie kommen wollte, kam sie, und wenn sie wieder gehen wollte, ging sie. Wie eine unabhängige, kapriziöse Katze. Es war eher verwunderlich, dass sie so lange an einem Ort geblieben war.
    Im Kühlschrank befanden sich mehr Lebensmittel, als er erwartet hatte. Anscheinend war Fukaeri vor einigen Tagen einkaufen gewesen. Sie hatte offenbar vor kurzem eine größere Menge Blumenkohl gekocht. Hatte sie gewusst, dass Tengo in ein oder zwei Tagen wieder in Tokio sein würde? Er hatte solchen Hunger, dass er sich zu dem Blumenkohl ein paar Eier briet. Er machte sich ein paar Scheiben Toast und trank zwei Becher Kaffee.
    Anschließend rief er den Freund an, der ihn an der Schule vertreten hatte, um ihm anzukündigen, dass er zu Beginn der nächsten Woche wieder arbeiten könne. Sein Freund erklärte ihm, wie weit er inzwischen im Lehrbuch gekommen war.
    »Du hast mir sehr geholfen. Du hast was gut bei mir«, bedankte Tengo sich.
    »Ach, Unterrichten macht mir nichts aus. Ab und zu kann das sogar ganz lustig sein. Aber wenn man es zu lange macht, wird man sich allmählich selber fremd.«
    Tengo kannte dieses Gefühl. Mitunter befiel es ihn selbst.
    »Ist während meiner Abwesenheit irgendwie etwas vorgefallen?«
    »Nichts Besonderes. Ach so, ja, ich habe einen Brief für dich entgegengenommen. Er liegt in der Schreibtischschublade.«
    »Einen Brief?«, fragte Tengo. »Von wem?«
    »Von einem Mädchen. Schlank, schulterlanges glattes Haar. Sie bat mich, ihn dir zu übergeben. Sie hatte eine etwas seltsame Art zu sprechen. Vielleicht eine Ausländerin.«
    »Hatte sie eine große Umhängetasche bei sich?«
    »Ja, eine grüne. Ziemlich vollgepackt.«
    Offenbar war es Fukaeri zu unsicher gewesen, den Brief in der Wohnung zu lassen. Vielleicht hätte ihn dort jemand gelesen oder weggenommen. Deshalb war sie zur Yobiko gegangen und hatte ihn seinem Freund anvertraut.
    Tengo bedankte sich nochmals und legte auf. Er hatte keine Lust, sich jetzt in die Bahn zu setzen, nach Yoyogi zu fahren und den Brief zu holen. Morgen war auch noch ein Tag.
    Zu spät fiel ihm ein, dass er vergessen hatte, seinen Freund nach dem Mond zu fragen. Er wollte ihn gerade noch einmal anrufen, als er es sich anders überlegte. Bestimmt hatte er sowieso nicht daran gedacht. Und letzten Endes war das ein Problem, das er allein lösen musste.
     
    Tengo verließ das Haus und schlenderte ziellos durch die abendlichen Straßen. Ohne Fukaeri war die Wohnung seltsam still und ungemütlich. Dabei hatte er, als er mit ihr zusammengewohnt hatte, ihre Präsenz nicht einmal besonders wahrgenommen. Er hatte sein Leben geführt und sie ihres. Doch jetzt, wo sie fort war, merkte Tengo, dass so etwas wie eine menschliche Leere entstanden war.
    Nicht, dass er sich besonders zu ihr hingezogen fühlte. Sie war eine wunderschöne, zauberhafte junge Frau, aber er konnte sich nicht erinnern, jemals sexuelles Verlangen nach ihr verspürt zu haben. Obwohl sie so viel Zeit in der gleichen Wohnung verbracht hatten, war sein Herz nie in Aufruhr geraten. Woran das wohl liegt? Was ist wohl der Grund dafür, dass ich Fukaeri nicht begehre? Natürlich hatte er damals während des Gewitters mit Fukaeri Geschlechtsverkehr gehabt. Aber sein Wunsch war das nicht gewesen. Sie hatte es gewollt.
    »Verkehr« war vielleicht genau der passende Ausdruck dafür. Tengo war wie gelähmt gewesen und hatte sich nicht rühren können. Fukaeri hatte ihn regelrecht bestiegen und sich seinen steifen Penis eingeführt. Sie hatte gewirkt wie eine von wollüstigen Träumen gesteuerte Fee.
    Danach hatten sie, als wäre nichts geschehen, zusammen in der kleinen Wohnung gelebt. Als das Unwetter fortgezogen war und der Morgen kam, schien Fukaeri den Vorfall völlig vergessen zu haben. Auch Tengo brachte ihn nie zur Sprache. Falls sie ihn vergessen hatte, war es wohl besser, es dabei zu belassen. Vielleicht war es auch für ihn besser, wenn er die ganze Sache vergaß.

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