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1Q84: Buch 3

1Q84: Buch 3

Titel: 1Q84: Buch 3 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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nicht. Es war ihm nicht um Bildung in einem allgemeinen Sinn zu tun, sondern um konkrete und handfeste Informationen, die Form und Gewicht hatten.
    Sein schiefer Riesenschädel erwies sich als vollkommenes Behältnis für seine große, kostbare Sammlung von Informationen. Seiner wenig vorteilhaften Erscheinung war es zu verdanken, dass er mehr Wissen hatte anhäufen können, als irgendjemand sonst in seinem Alter. Hätte er gewollt, er hätte jeden mit Leichtigkeit widerlegen können. Nicht nur seine Geschwister oder seine Mitschüler, auch seine Eltern und seine Lehrer. Doch Ushikawa achtete darauf, sein Können nicht preiszugeben. Wie auch immer geartete Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen gehörte nicht zu seinen Vorlieben. Sein Wissen und seine Fähigkeiten waren letzten Endes Werkzeuge und keine Mittel, um sich hervorzutun.
    Ushikawa sah sich als eine Art nachtaktives Tier, das verborgen im Dunkel eines Waldes auf zufällig des Wegs kommende Beute lauerte. Er wartete geduldig auf eine Gelegenheit, und wenn sie da war, schlug er entschlossen zu. Vorher musste er seine Existenz verschleiern, musste sich absolut still verhalten. Das Wichtigste war, die eigene Präsenz zu unterdrücken und den Gegner unvorbereitet zu überraschen. Schon in der Grundschule verhielt er sich so. Er verließ sich nie auf andere und zeigte auch nie seine Gefühle.
    Mitunter stellte er sich vor, wie es hätte sein können, wenn er mit einem ansprechenderen Äußeren zur Welt gekommen wäre. Nicht so gutaussehend, dass man ihn dafür bewundert hätte. Das war gar nicht nötig. Einfach ganz normal. Nur eben nicht so unansehnlich, dass sich die Leute auf der Straße unwillkürlich nach ihm umdrehten. Das hätte schon gereicht. Wie wäre sein Leben wohl verlaufen, wenn er mit einem anderen Aussehen auf die Welt gekommen wäre? Aber dieses »wenn« überstieg dann doch sein Vorstellungsvermögen. Ushikawa war eben Ushikawa, und mit solchen Grübeleien verschwendete er nur seine Zeit. Er hatte eben einen großen, schiefen Schädel, vorstehende Augen und krumme, kurze Gliedmaßen; all das machte den Menschen Ushikawa aus, diesen skeptischen, wissbegierigen, redebegabten, aber schweigsamen Jungen.
     
    Im Laufe der Jahre wurde aus dem hässlichen Jungen ein hässlicher Jüngling. Und irgendwann ein hässlicher Mann in mittlerem Alter. Ganz gleich, in welcher Lebensphase Ushikawa war, die Leute drehten sich auf der Straße nach ihm um, und die Kinder glotzten ihm ungeniert ins Gesicht. Manchmal fragte er sich, ob er, wenn er einst ein hässlicher alter Mann geworden war, noch immer so viele Blicke auf sich ziehen würde. Oder ob seine angeborene, individuelle Hässlichkeit dann vielleicht weniger auffallen würde als in seiner Jugend, da alte Menschen ohnehin meist hässlich waren. Doch er wusste ja nicht, wie er als alter Mann wirklich aussehen würde. Vielleicht würde ja auch ein besonders unansehnlicher alter Knacker aus ihm.
    Jedenfalls war es ihm bei aller Raffinesse nicht möglich, mit einem Hintergrund zu verschmelzen. Außerdem kannte Tengo ihn. Wenn er Ushikawa dabei erwischte, wie dieser um sein Haus herumschlich, ginge alles den Bach herunter.
    In der Regel heuerte er in solchen Fällen einen besonders geschulten Ermittler an. Aus seiner Zeit als Anwalt hatte er noch die nötigen Beziehungen. Die meisten waren ehemalige Polizisten und versiert in den Techniken des Abhörens, Beschattens und Bewachens. Aber diesmal wollte er keinen Außenstehenden hinzuziehen. Das Problem war zu heikel, und es ging um ein so schweres Verbrechen wie Mord. Außerdem wusste Ushikawa selbst nicht genau, was es bringen sollte, Tengo zu beschatten.
    Natürlich wollte er unbedingt herausfinden, welche Verbindung zwischen Tengo und Aomame bestand, aber er wusste ja nicht einmal, wie Aomame aussah. Obwohl er alles versucht hatte, war es ihm nicht gelungen, ein ordentliches Foto von ihr in die Hände zu bekommen. Nicht einmal die Fledermaus hatte das geschafft. Zwar hatte Ushikawa das Abschlussfoto im Jahrgangsalbum ihrer Schule sehen können, aber ihr Gesicht auf dem Klassenbild war klein, und es war ihm sehr unnatürlich und maskenhaft erschienen. Auf dem Foto von der Softball-Mannschaft ihrer Firma trug sie eine Mütze mit einem großen Schild, sodass ihr Gesicht im Schatten lag. Ushikawa hätte Aomame nicht einmal erkannt, wenn sie auf der Straße direkt an ihm vorbeigegangen wäre. Er wusste, dass sie etwa einen Meter siebzig groß war und eine gute Figur

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