1Q84: Buch 3
Ushikawas Großvater, der während des Krieges im Bezirk Koto in einer Metallfabrik beschäftigt gewesen, aber bei den Bombenangriffen auf Tokio im Frühjahr 1945 ums Leben gekommen war. Ushikawas Vater hatte ihn nie kennengelernt, doch in einem alten Album gab es noch ein Foto, das bei allen einen Aha-Effekt hervorrief. Dieser entfernte Onkel des Vaters hatte eine geradezu erstaunliche Ähnlichkeit mit Ushikawa. Sie glichen einander wie ein Ei dem anderen. Offenbar waren die gleichen Faktoren, die das Aussehen dieses Onkels bedingt hatten, zufällig erneut aufgetreten.
Ansonsten lief den Ushikawas aus Urawa in der Präfektur Saitama weder im Aussehen noch in der akademischen Laufbahn ihrer Kinder etwas aus dem Ruder. Sie waren eine Bilderbuchfamilie, die jeder beneidet hätte, wäre Ushikawa nicht gewesen. Sein Anblick rief stets Stirnrunzeln und Kopfschütteln hervor. Man fragte sich, ob in den Zauber, mit dem eine gute Fee die Familie gesegnet hatte, eine böse Fee hineingefunkt hatte. Zumindest glaubten seine Eltern, andere müssten sich das fragen . Also bemühten sie sich, Ushikawa möglichst wenigen Leuten zu präsentieren oder zumindest dafür zu sorgen, dass er nicht so auffiel (was natürlich vergebens war).
Ushikawa war mit seiner Situation jedoch nicht sonderlich unzufrieden und fühlte sich weder einsam noch traurig. Er hatte nicht das Bedürfnis, groß in Erscheinung zu treten, und hielt sich gern im Hintergrund. Seine Geschwister behandelten ihn, als sei er so gut wie nicht vorhanden, aber auch das störte ihn nicht. Er hatte seinerseits auch kein großes Interesse an ihnen. Sie sahen gut aus, hatten gute Noten und waren von zahllosen Freunden umschwärmte Sportskanonen. Ushikawa hingegen fand sie hoffnungslos schal und langweilig. Ihre Gedanken waren flach, ihr Blickfeld war eng, es fehlte ihnen an Phantasie, ihre einzigen Sorgen waren ihr Prestige und das, was andere über sie dachten. Vor allem besaßen sie nicht die gesunde Skepsis, die notwendig ist, um sich eine gewisse intellektuelle Weisheit anzueignen.
Als niedergelassener Arzt genoss Ushikawas Vater ein gewisses Ansehen, aber als Mensch war er so langweilig, dass es einem in der Seele wehtat. Wie bei dem König Midas, dessen Berührung jeden Gegenstand in Gold verwandelte, wurde jedes Wort, sobald es aus Dr. Ushikawas Mund kam, zu staubtrockenem Sand. Vermutlich sprach er absichtlich wenig, um so sein Langweilertum und seine Beschränktheit zu verbergen. Im Gegensatz zu ihm redete die Mutter wie ein Wasserfall. Sie war eine vulgäre Person, neureich, egoistisch, eingebildet, die gern prunkte und protzte und eine schrille Stimme hatte, mit der sie allzu oft über andere Leute herzog. Der älteste Sohn hatte die Veranlagung des Vaters geerbt, der jüngere kam eher nach der Mutter. Die Tochter war sehr unabhängig, aber auch rücksichtslos und nur auf ihren eigenen Vorteil bedacht. Als Nesthäkchen hatten die Eltern sie gründlich verwöhnt und verzogen.
So kam es, dass Ushikawa den größten Teil seiner Kindheit allein verbrachte. Sobald er aus der Schule kam, sperrte er sich in sein Zimmer ein und vergrub sich völlig in seiner Lektüre. Außer dem Hund, den sie hielten, hatte er keine Freunde und daher keine Gelegenheit, seine Erkenntnisse mit jemandem zu erörtern, dennoch merkte er sehr wohl, dass er Scharfsinn besaß und gut reden konnte. Geduldig und ganz allein kultivierte er seine Fähigkeiten. So stellte er bestimmte Thesen auf, die er dann mit sich selbst debattierte. Auf der einen Seite unterstützte er die Behauptung, auf der anderen griff er sie an. Es gelang ihm, sich etwa gleich überzeugt – und gewissermaßen aufrichtig – mit beiden Standpunkten zu identifizieren und sich völlig in die jeweilige Rolle hineinzuversetzen. Auf diese Weise eignete er sich unbewusst die Fähigkeit an, sich selbst zu misstrauen und sich zu hinterfragen. Häufig erkannte er, dass etwas, das allgemein für wahr gehalten wurde, nichts weiter als eine relative Annahme war. Außerdem lernte er, dass viele Menschen in ihrem Denken nicht eindeutig zwischen Subjekt und Objekt zu unterscheiden vermögen und dass es keine große Schwierigkeit war, diese Grenze, die schon von Natur aus oft verschwamm, absichtlich zu verschieben.
Um Logik und Rhetorik noch wirkungsvoller einsetzen zu können, stopfte er sich den Kopf mit sämtlichem Wissen voll, dessen er habhaft werden konnte. Ob es ihm nützlich erschien oder nicht. Ob er die Ansichten teilte oder
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