20 - Im Reiche des silbernen Löwen I
dieser Weise beleidigen und die Wange eines Mannes schamrot machen, welcher dir sein ganzes Herz geschenkt hat und jederzeit bereit ist, sein Leben fünfzigmal hintereinander für dich hinzugeben! Weshalb führt man solche Heldentaten, wie wir sie verrichten haben, aus! Doch nur, damit man von ihnen sprechen und erzählen kann!“
„Nein! Was wir getan haben, ist aus ganz anderen und besseren Gründen geschehen. Ich habe – – –“
„Gründe?“ unterbrach er mich. „Von den Gründen ist jetzt gar nicht die Rede, denn Gründe gehen voraus, das Sprechen aber folgt hinterher. Wenn ich von dem, was ich getan und erlebt habe, nicht sprechen soll, so will ich lieber gar nichts tun und erleben!“
„Wer hat dir das Sprechen verboten? Du sollst dich nur vor Übertreibungen hüten.“
„Übertreibungen? O Sihdi, wie ist es mit deiner Erfahrenheit und Menschenkenntnis doch so schlecht bestellt! Der Mensch ist das einzige ungläubige Geschöpf, welches auf der Welt wohnt, denn Tiere, Pflanzen und Steine können nie ungläubig sein, was du aber gar nicht zu wissen scheinst. Und weil der Mensch den Unglauben ganz allein besitzt, so hat er davon eine so große Menge, daß sie gar nicht gezählt, gemessen und berechnet werden kann. Sagst du das Wort hundert, so wird man dir nur das Wort zwanzig glauben; hast du fünf Kinder, so traut man dir nur zwei zu, und behauptest du, alle zweiunddreißig Zähne zu besitzen, so läßt man dir nur zehn oder elf, zwischen denen sich einundzwanzig Chilahl (Zahnlücken) befinden. Darum wird ein kluger Mensch stets mehr sagen, als eigentlich richtig ist. Ich, der Besitzer eines einzigen Kindes, sage, daß ich zehn Knaben und zwanzig Mädchen habe; ich behaupte, sechsundneunzig Zähne zu besitzen, und das ist keine Lüge, denn ich weiß ja, daß man mir wenigstens drei Viertel davon abziehen wird. Ich sage keine Unwahrheit; ich übertreibe nicht, denn wenn ich sage, daß ich zwei Beine besitze, so glaubt man nur an eines, und ich muß also, wenn die Wahrheit getroffen werden soll, wenigstens von vieren sprechen. Allah mag deinen Geist erleuchten, daß du das, was ich dir jetzt gesagt habe, nach und nach verstehen lernst und mir ja nicht immer dreinredest, wenn ich von unsern Heldentaten erzähle. Wenn du einen Wüstenfuchs geschossen hast, mußt du unbedingt einen Löwen daraus machen, weil man sonst annimmt, daß es nur eine Maus gewesen sei, und wenn ein Mensch im Fluß umgekommen ist, so muß ich erzählen, daß zehn Personen ertrunken seien, denn sonst behauptet man, daß überhaupt gar kein Wasser zum Ertrinken dagewesen sei. Nimm dir diese meine Worte zu Herzen, Sihdi! Laß dich mahnen, warnen und belehren! Ich kenne die Welt und die Menschen besser als du. Wenn du heiler Haut nach Persien und wieder zurückkommen willst, so sag stets mehr, viel mehr, als du eigentlich zu sagen hast. Allah jesellimak – Gott erhalte dich!“
Er drehte sich nach dieser Ermahnung um und ging in der stolzen, selbstbewußten Haltung eines Mannes fort, welcher einen andern durch die Überlassung seines ganzen Vermögens vom Bankrott errettet hat. Er war in Beziehung auf das Prahlen eben unverbesserlich, doch muß ich zu seiner Entschuldigung hinzusetzen, daß dies ihm als Orientalen nicht so hoch angerechnet werden durfte. Hätte er sich nach europäischem Muster benommen, so wäre er nicht der liebe, wackere und originelle Kauz gewesen, als der er mir stets so sehr gefallen hatte.
Im Verlaufe der vorhin angegebenen Zeit von einer Woche kam das Gespräch natürlich oft auf meine beabsichtigte Reise nach Persien, und da erfuhr ich, daß Halef plante, vorher erst einen andern Ritt zu unternehmen, welcher allerdings notwendiger als meine Reise war. Die Kabila (Abteilung) der Haddedihn gehört, wie man weiß, zum Scha'b (Stamm, Volk) der Schammar, und darum hatte es der kleine Hadschi schon längst, ja schon seit seiner Erwählung zum Scheik der Haddedihn, für angezeigt gehalten, den Dschebel Schammar und Hâil, den Hauptort dieser Landschaft, aufzusuchen, um die lange Zeit unterbrochenen Beziehungen zu den Stammesgenossen wieder anzuknüpfen. Der Hadschi war nicht nur ein mutiger Krieger, sondern auch ein kluger Diplomat, und seine Hanneh stand ihm in letzterer Beziehung mit den besten Ratschlägen zur Seite. Beide hegten die Meinung, daß eine Erneuerung dieser Verbindung ihren Haddedihn großen Nutzen bringen und ein bedeutendes Übergewicht über die umwohnenden Stämme, denen trotz der mit
Weitere Kostenlose Bücher