20 - Im Reiche des silbernen Löwen I
Abstimmung über das Schicksal eines Gefangenen den Tod desselben verlangte und meist auch durchsetzte. Handelte es sich um einen Andersgläubigen, einen Schiiten, einen Juden oder gar Christen, so war von Schonung schon gar keine Rede, und selbst die Scherarat, die seine Künste bewunderten, fürchteten ihn im stillen und nahmen sich vor ihm in acht als vor einem Mann, dessen Zorn selbst seinen nächsten Angehörigen gefährlich werden konnte. Eigentlich war er im Stamm mächtiger als selbst der Scheik, und man erzählte im stillen, daß dieser es darum gar nicht ungern sehen würde, wenn dem Zauberer einmal etwas Menschliches geschehen sollte; aber ein solches Ereignis mit eigener Hand herbeizuführen, das wagte er freilich nicht.
Also von diesem Stamm drohte uns die größte Gefahr, zumal wir nicht wußten, wo er jetzt zu suchen war. Wir befanden uns ungefähr in gleicher Höhe mit der Landschaft Tschohf, vielleicht anderthalb Tagereisen östlich von ihr, und hatten den kleinen Bir Nufah (Brunnen Nufah) so vor uns, daß wir ihn um Mittag erreichen konnten; nur galt es, zu erfahren, ob er besetzt sei oder nicht. Ich wollte voranreiten, um zu rekognoszieren; aber das gab Halef nicht zu.
„Sihdi, willst du mich beleidigen?“ rief er aus. „Du bist ein Franke, und ich bin ein Ibn el Arab; ist es da nicht meine Sache, die Gegend zu erkunden, ob wir sicher sind oder nicht? Oder traust du mir die dazu gehörige Geschicklichkeit nicht zu?“
„Ich traue sie dir zu, aber du weißt, daß ich in Beziehung auf diese Geschicklichkeit dein Lehrer gewesen bin.“
„Danach gehe ich nicht, denn der Schüler kann nicht nur erreichen, sondern sogar übertreffen.“
„Meinst du, daß dies bei dir der Fall sei?“
„Ich meine nichts, gar nichts; aber es wird sich zeigen, und Kara Ben Halef, mein Sohn, soll seinen Vater schätzen und bewundern lernen. Darum fordere ich als dein und sein Beschützer von dir, daß du mir erlaubst, voranzureiten!“
Was sollte ich tun? Um ein zuverlässiger, vorsichtiger Kundschafter zu sein, dazu war der kleine Hadschi zu unbedenklich und verwegen. Aber durfte ich ihn vor seinem Sohn blamieren? Nein. Ich ließ ihn also fort. Bald sahen wir ihn auf seinem windschnellen Hedschihn am Horizonte verschwinden, und wir ritten ihm in der bisherigen, ungesteigerten Gangart nach. Wir hatten noch zwei Stunden bis Mittag, also bis zu dem Brunnen, zu reiten, dessen Lage ich zwar ungefähr wußte, dessen Umgebung mir aber vollständig unbekannt war.
Bei der Schnelligkeit, mit welcher Halef sich entfernt hatte, mußte er in nicht viel über einer Stunde dort sein; ich war also nach Verlauf von ein und einhalb Stunden so vorsichtig, anzuhalten, um auf seine Rückkehr zu warten. Es verging wieder eine Stunde, ohne daß ich dies seinem Sohn merken ließ. Als aber wieder eine halbe Stunde vorüber war, fragte dieser mich in bedenklichem Tone:
„Emir, sag, könnte mein Vater nicht längst schon hier sein?“
„Er wird Leute am Brunnen bemerkt haben und warten wollen, bis sie fort sind“, versuchte ich, ihn zu beruhigen.
„Das würde nicht klug von ihm sein, denn in diesem Fall müßte er umkehren, um uns zu warnen.“
„Sorge dich nicht, sondern verlaß dich auf ihn; du hast ja vorhin von ihm gehört, daß er ein guter Kundschafter ist!“
Er schwieg, als aber wieder eine halbe Stunde verfloß, ohne daß Halef sich sehen ließ, gestand er mir:
„Emir, ich beginne Sorge zu tragen. Allah möge meinen Vater beschützen! Es ist ihm ein Unglück widerfahren. Laß uns eilen, ihm Hilfe zu bringen!“
„Nicht eilen, sondern langsam und vorsichtig reiten, und zwar du ganz genau hinter mir.“
„Warum hinter dir?“
„Aus Vorsicht. Die Luft ist nicht rein am Brunnen; das ist gewiß. Es sind Leute dort.“
„Allah, Allah! Haben sie meinen Vater ergriffen?“
„Das weiß ich nicht, aber ich vermute es, wie ich dir jetzt aufrichtig gestehen will.“
„So müssen wir eben rasch machen, um ihm zu helfen!“
„Im Gegenteil, wir müssen zögern. Durch die Eile würden wir alles verderben. Wenn dein Vater diesen Männern in die Hände gefallen ist, so werden sie die Gegend, aus welcher er kam, beobachten; denn sie können sich denken, daß er sich nicht allein in der weiten Wüste befunden hat. Reiten wir schnell auf den Brunnen zu, so werden sie uns eher sehen, als wir sie bemerken, und ihre Vorkehrungen danach treffen. Sie sind abgestiegen, also von weitem klein, während wir auf unsern Kamelen
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