20 - Im Reiche des silbernen Löwen I
Reiter abgeworfen, dem du nicht erlauben willst, im Sattel sitzen zu bleiben. Merke dir das, Sihdi, denn es ist leicht möglich, daß du dadurch einmal Vorteile über einen Feind gewinnst!“
Es verstand sich ganz von selbst, daß ich diese Vorteile für sehr wahrscheinlich hielt, denn nicht bloß Rih, sondern auch die beiden Hengste Winnetous waren dressiert gewesen, jeden fremden Reiter auf ein bestimmtes Zeichen abzuwerfen, und ich hatte den Nutzen dieser Abrichtung wiederholt erlebt. Während der Tage bis zu unserer Abreise ritt ich Assil so fleißig, daß er sich an mich gewöhnte und mich liebgewann. Ich war überzeugt, mich auf ihn ebenso wie früher auf Rih verlassen zu dürfen.
Unser Weg sollte über Bagdad gehen, und wir beschlossen, ihn, um die Pferde nicht gleich am Anfang anzustrengen, bis zu dieser Stadt nicht auf dem Land, sondern auf dem Wasser, nämlich dem Tigris, zurückzulegen. Es mußte, um uns und die Pferde tragen zu können, ein ziemlich großes Kellek zusammengesetzt werden, eines jener Flöße aus aufgeblasenen Ziegenfellen, welche auf dem erwähnten Fluß gebräuchlich sind. Man wollte uns einreden, daß wir zum Lenken des Kellek und zum Schutz gegen die etwa am Fluß sich aufhaltenden feindlichen Beduinen eine Anzahl Haddedihn mitzunehmen hätten, ich ließ mich aber nicht dazu bereden. Die betreffende Strecke des Tigris war uns von früher her bekannt; je mehr Leute wir mitnahmen, um so größer mußte das Floß sein, und da ein kleines Fahrzeug weniger Aufmerksamkeit erregt als ein großes, waren wir beide jedenfalls allein sicherer als unter dem fraglichen Schutz von Leuten, deren Anwesenheit nur den Erfolg haben konnte, die Gefahren, denen wir entgehen wollten, erst recht herbeizuführen.
Daß wir nach unserer Ankunft in Bagdad die Ruinen von Babylon besuchen wollten, habe ich bereits erwähnt. Es sollte das eine ernste Gedenkfeier sein, eine Wallfahrt nach dem Ort, an welchem wir schon mit beiden Füßen im Grab gestanden hatten und nur wie durch ein Wunder dem Tod entgangen waren.
Am Abend vor unserm Aufbruch hatten wir sehr lange in der Dschema, dem Rat der Alten, beisammengesessen, um für die Dauer von Halefs Abwesenheit eine Vertretung für ihn zu wählen. Es war weit nach Mitternacht, als ich nach meinem Zelt ging, um mich niederzulegen. Ich stand dann eben im Begriff, die Sesamöllampe auszulöschen, als der Türvorhang zurückgeschlagen wurde, und der Hadschi seinen Kopf hereinsteckte, um mich zu fragen:
„Sihdi, schläfst du schon?“
„Nein, wie du siehst, lieber Halef.“
„Darf ich herein?“
„Natürlich, ja!“
Da trat er vollends in das Zelt, kam ganz nahe zu mir heran, machte ein höchst geheimnisvolles Gesicht und sagte mit leiser Stimme:
„O Sihdi, ich habe dir etwas zu sagen, worüber du vor Erstaunen den Kopf bis übermorgen schütteln wirst!“
„Ich werde dieses Schütteln wahrscheinlich in viel kürzerer Zeit besorgen. Was ist es, was du mir zu sagen hast!“
„Ich bringe es kaum über meine Lippen, denn es ist etwas so außerordentlich Ungewöhnliches, daß du mich höchstwahrscheinlich, sobald du es vernommen hast, sofort hinauswerfen wirst!“
„Das denke nicht! Meinen Halef werfe ich nicht hinaus!“
„Aber es geht gegen den Koran, gegen alle Auslegungen des Koran, oh – oh, es geht überhaupt gegen alle Gewohnheiten und Sitten, gegen alle Regeln und Gesetze! Ich war erschrocken, als ich es hörte; ich war ganz starr! Aber sag selbst, durfte ich es meiner Hanneh abschlagen, welche die Seele meines Lebens und das Leben meiner Seele ist!“
„Nein, du durftest es ihr nicht abschlagen“, antworte ich, höchst gespannt auf den Grund seiner ungewöhnlichen Verlegenheit.
„Ich danke dir, Sihdi! Deine Worte geben mir den Mut, dir zu sagen, daß sie den Wunsch hat, jetzt noch mit dir zu sprechen.“
„Wer? Hanneh?“
„Ja, Hanneh, der Abglanz aller Lieblichkeit von tausend Frauengesichtern.“
„Und das bringt dich so in Verwirrung? Ich habe während dieser Woche so oft mit ihr gesprochen, ohne daß deine Seele dabei das Gleichgewicht verlor. Bei den Beduinen ist die Frau nicht eine solche Sklavin wie in den Harems der Städtebewohner.“
„Das ist richtig; aber du kennst noch gar nicht die ganze Fülle ihres Wunsches, welche den Umfang und den Inhalt deines Geistes tief erschüttern wird. Du hast nämlich bisher nur am Tag und in Gegenwart anderer mit ihr gesprochen; jetzt aber will sie dich allein haben – ohne mich –
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