20.000 Meilen unter den Meeren
ansah, weil ich die Speisen nicht kannte, und er klärte mich auf. »Die meisten Gerichte werden Ihnen fremd sein, aber Sie können sie unbesorgt essen. Sie sind gesund und nahrhaft. Meine Mannschaft und ich essen schon lange keine irdische Nahrung mehr. Die Tiefsee befriedigt alle meine Bedürfnisse. Ich werfe hier meine Netze aus und ziehe sie zum Brechen voll wieder ein. Ich gehe in den Tiefen des Ozeans auf Jagd und erlege das Wild meiner unterseeischen Wälder. Meine Herden weiden ohne Furcht auf den unermesslichen Wiesen der Weltmeere. Niemals kommt Fleisch von Landtieren auf meinen Tisch.«
»Dieses da ist aber doch …«
»Nichts als eine Meerschildkröte. Daneben steht Delfinleber, die Sie glatt für Schweineragout halten würden. Mein Koch versteht sich auf solche Effekte. Kosten Sie von allem, Professor. Das hier sind eingemachte Seegurken, die ein Malaie für das beste Gericht der Welt halten würde. Daneben die Sahne, die ist aus Seesäugermilch; den Zucker entnehme ich dem Seetang des Nordmeeres und zum Dessert probieren Sie mal von dem Seeanemonenkonfekt und sagen Sie mir, ob Sie dafür nicht das beste Obst stehen lassen würden!«
Ich nahm, mehr aus Neugier als aus Esslust, von allem, während der Kapitän mit seinen unglaublichen Berichten fortfuhr.
»Aus dem Meer kommt auch die Kleidung, die Sie und ich tragen. Die Stoffe sind aus den Fasern einiger Muscheln gewebt, mit dem Purpur der Antike gefärbt. Das Parfüm auf der Toilette in Ihrer Kabine ist aus Seepflanzen destilliert. Ihr Bett, Ihre Feder, Ihre Tinte: Alles kommt aus dem Meer, alles, dessen ein Mensch bedarf.«
»Sie sind ein großer Freund des Meeres, Kapitän«, sagte ich.
»Oh ja. Ich liebe es. Das Meer ist alles. Es bedeckt sieben Zehntel der Erdoberfläche. Der Seewind ist gesund und rein. Es ist eine unermessliche Einöde, in der der Mensch doch niemals allein ist, denn er fühlt, wie das Leben um ihn herumpulst. Das Meer spiegelt ein übernatürliches und wunderbares Dasein wider, es besteht nur aus Bewegung und Liebe, es ist die lebendige Unendlichkeit. In der Tat, Herr Professor, alle drei Reiche der Natur sind hier vertreten: die Steine, die Pflanzen und die Tiere. Vier Gruppen von Pflanzentieren, drei Klassen Gliedertiere, fünf Klassen Mollusken, drei Klassen Wirbeltiere, Säuger, Reptilien, Fische – der Reichtum dieser Fauna ist unerschöpflich. 13 000 Gattungen sind unter Wasser heimisch und nur ein Zehntel davon im Süßwasser. Die Meere sind eine ungeheure Wohnstätte der Natur. Am Anfang des Lebens war das Meer, und wer weiß, ob es nicht auch am Ende wieder über dem Leben zusammenschlägt. Hier allein gibt es die große Ruhe. Hier allein haben Tyrannen keine Macht. Auf den Wasserflächen des Ozeans können sie sich noch schlagen und verfolgen, aber schon 10 m darunter hört ihre Macht auf. Hier allein ist Unabhängigkeit! Hier kenn ich keine Herren. Hier bin ich frei!«
7. Kapitel
Der Kapitän stand auf, ich folgte. Wir verließen den Speisesaal durch eine Doppeltür und betraten einen gleich großen Raum, der dahinter lag – die Bibliothek. Die Wände waren mit kupferbeschlagenen Palisanderregalen ausgekleidet, in deren Fächern eine unschätzbare Menge gleichförmig gebundener Bücher stand. Die Regale endeten in ledergepolsterten Sitzbänken, die alle Bequemlichkeit zum Lesen boten. Außerdem gab es in Reichweite stets Lesepulte, auf denen man die Bücher abstellen konnte. Ein großer Tisch in der Mitte des Raumes war mit Broschüren und alten Zeitschriften bedeckt. Der harmonisch gestaltete Raum wurde von vier glatt polierten Halbkugeln in der Decke erleuchtet.
»Das ist eine Bibliothek, Kapitän«, sagte ich, »die manchem Herrenhaus oben auf der Erde Ehre machen würde. Ich hätte sie hier unterm Meer nicht erwartet.«
»In einem Lesesaal muss Ruhe herrschen«, antwortete Nemo, »und wo finden Sie größere Ruhe als auf dem Meeresgrund?«
»Da haben Sie auch wieder recht. Ich schätze, Sie besitzen da so 6 000 bis 7 000 …«
»12 000. Diese Bände sind das Letzte, was ich von der Erde mitgenommen habe. An dem Tage, da ich die Nautilus zum ersten Mal in Wasser tauchte, habe ich meine letzten Bücher, Broschüren und Zeitschriften gekauft. Seitdem existiert die Welt für mich nicht mehr, seitdem lebe ich in der Vorstellung, dass seit diesem Tage auf der Erde nichts mehr gedacht und geschrieben worden ist. Diese Bücher stehen übrigens ganz zu Ihrer Verfügung, Professor.«
Ich trat näher an die
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