20.000 Meilen unter den Meeren
Regale heran. Auf den ersten Blick erkannte ich, dass diese Bibliothek in den exakten Wissenschaften, in der Philosophie und der Belletristik mehrsprachig und gut sortiert war. Allerdings fehlten, auch das sah ich gleich, die Werke der politischen Ökonomie völlig, sie waren aus diesem Regal des Schönen, Wahren und Guten verbannt. Aus der Anordnung nach Sachgebieten ohne Rücksicht auf die Sprache sah ich, dass der Kapitän Nemo einer ganzen Anzahl von Sprachen mächtig sein musste.
Natürlich fand ich alle Meisterwerke der alten und modernen Schriftsteller hier wieder, die großen Autoren von Xenophon bis Michelet, von Rabelais bis George Sand. Den größten Teil aber nahmen die wissenschaftlichen Fachbücher ein, Schriften über Mechanik, Ballistik, Seekarten, Meteorologie, Geografie, Geologie; und kaum weniger zahlreich waren die Autoren der Naturgeschichte vertreten: Humboldt, Arago, Foucault, d’Henry Sainte-Caire Deville, Chasles, Milne-Edwards, Quatrefages, Tyndall, Faraday, Berthelot, Secchi, Petermann, Agassis. Dazu natürlich die Bulletins und Jahrbücher der wissenschaftlichen Akademien und geografischen Gesellschaften und unter all diesen Büchern eben auch jene zwei Bände von mir, denen ich womöglich den halbwegs freundlichen Empfang zu verdanken hatte. Übrigens konnte ich nach Joseph Bertrands »Begründung der Astronomie«, von der ich wusste, dass es 1865 erschienen war, mir etwa ausrechnen, wie lange die Nautilus schon existierte: höchstens drei Jahre. Ich hoffte beim genaueren Studium der herumliegenden Zeitschriften noch präzisere Daten zu bekommen. Zunächst aber bedankte ich mich beim Kapitän.
»Ich bin sehr glücklich darüber, dass ich diese Bibliothek benutzen darf.«
»Es ist nicht nur meine Bibliothek, sondern gleichzeitig auch der Rauchsalon.«
»Es darf also an Bord geraucht werden?«, rief ich freudig erregt.
»Aber selbstverständlich.«
»Sie haben also Verbindung nach Havanna?«
»Nicht im Geringsten. Hier, bitte, bedienen Sie sich. Diese Zigarren kommen zwar nicht aus Havanna, aber wenn Sie Kenner sind, werden Sie zufrieden sein.«
Ich nahm die Zigarre (in der Form einer »Londres« ähnlich), die aus Goldblättern gewickelt schien, beroch sie, zündete sie in dem kleinen Kohlebecken auf einem Bronzefuß an und inhalierte die ersten Züge mit der Lust eines Süchtigen, der zwei Tage lang Enthaltsamkeit geübt hat.
»Ausgezeichnet«, sagte ich, »aber kein Tabak!«
»Weder Havanna noch Orient, da haben Sie ganz recht. Dieser Tabak stammt von einer nikotinreichen Algensorte, die man, allerdings nicht sehr häufig, im Meer findet. Trauern Sie Ihren ›Londres‹ nach?«
»Ich werde sie nicht mehr anrühren!«
»Schön, dann rauchen Sie, so viel Sie Lust haben. Diese Zigarren sind sogar vollkommen frei vom Ruch des staatlichen Monopols.«
»Man schmeckt’s.«
Die nächste Doppeltür führte uns aus der Bibliothek in einen strahlend erleuchteten, riesenhaften Saal. Er war ebenfalls rechteckig, hatte aber abgestumpfte Ecken. Von der arabeskenverzierten Decke fiel weiches, reines Licht auf all die Wunderwerke der Natur und Kunst, die der Kapitän Nemo in diesem prachtvollen Privatmuseum versammelt hatte, und zwar so geschickt und künstlerisch, dass die Atmosphäre des Raumes etwas von dem gewissen Etwas hatte, das man manchmal in Malerateliers findet.
Etwa 30 Meisterwerke der Malerei in einheitlichen Rahmen schmückten die Wände, aufgelockert durch Waffen und Rüstungsteile. Es waren samt und sonders Bilder von höchstem Wert, wie ich sie sonst nur in Sonderausstellungen der europäischen Museen gesehen hatte. Die Schulen der Alten waren da vertreten: Raffael mit einer Madonna, Leonardo mit einer Jungfrau, Correggio mit einer Nymphe, Tizian mit einer Frau, Veronese mit einer Anbetung, Murillo mit einer Himmelfahrt, Holbein mit einem Porträt, Velasquez mit einem Mönch, Ribera mit einem Märtyrer, Rubens mit einer Kirmes, Teniers mit zwei flämischen Landschaften, Dou, Metsu und Potter mit drei kleinen Genrebildern, Géricault und Prudhon mit je einem Bild, Backuysen und Vernet mit einigen Seestücken. Von den Modernen erschienen Delacroix, Ingres, Decap, Troyon, Meissonnier und Daubigny. Außerdem standen in allen acht Ecken dieses Saals natürlich verkleinerte Modelle der schönsten antiken Statuen.
»Sie entschuldigen die Formlosigkeit, mit der ich Sie in dieser Unordnung empfange, Professor«, sagte der Kapitän Nemo beiläufig.
»Aber Sie sind ein Künstler,
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