20.000 Meilen unter den Meeren
Verantwortung entheben und stelle deshalb sicher, dass Sie nicht sehen, was nicht gesehen werden darf. Sind Sie damit einverstanden?«
Dinge also an Bord vorgehend oder in der Umgebung dieses Schiffes, die ein Mensch, für den die Regeln der menschlichen Gesellschaft noch galten, nicht sehen durfte …?
»Angenommen!«, sagte ich. »Und jetzt: Was verstehen Sie unter ›verhältnismäßig frei‹?«
»Die Freiheit hin und her zu gehen, zu beobachten, zu essen, kurz, die Freiheit, die meine Gefährten und ich haben.«
»Aber diese Freiheit haben Gefangene in ihrer Zelle auch! Wir sollen darauf verzichten, unsere Freunde und unsere Heimat wiederzusehen?«
»Allerdings. Aber vielleicht ist es gar nicht so schwer, auf dieses unerträgliche irdische Joch zu verzichten, das die Menschen ›Freiheit‹ nennen.«
»Ich denke ja nicht dran!«, rief Ned Land. »Ich gebe niemals mein Wort, dass ich nicht versuchen werde, mich zu befreien.«
»Dieses Versprechen habe ich Ihnen ja auch gar nicht abverlangt«, sagte der Große kalt.
»Ich finde, dass Sie Ihre Macht ein bisschen missbrauchen, Monsieur!«, sagte ich. »Was Sie von uns fordern, ist reichlich grausam.«
»Sie irren, Herr Professor. Es ist eine Gnade. Es würde mich nur ein Wort kosten, dann sänken Ihre Leichen in den Schlamm des Meeresgrundes. Vergessen Sie nicht, dass Sie mich angegriffen haben! Sie sind in den Besitz eines Geheimnisses gelangt, das niemand auf der Welt erfahren darf. Sie glauben doch nicht im Ernst, dass ich Sie wieder auf die Erde entlasse, die mich nicht mehr kennen darf!? Wenn ich Sie hierbehalte, schütze ich nicht Sie, sondern mich selbst.«
»Also die Wahl zwischen Leben und Tod?«
»Genau.«
»Freunde«, sagte ich, »darauf geben wir keine Antwort. Ich möchte festhalten, dass uns kein Schwur an den Kommandanten dieses Fahrzeugs bindet.«
»Kein Wort, ganz recht. Aber erlauben Sie mir jetzt, Ihnen alles mitzuteilen, was ich zu sagen habe. Ich kenne Sie, Professor Aronnax. In meiner Bibliothek steht Ihr schönes Werk über die Tiefseefauna. Ein gutes und kluges Buch. Sie sind so weit in diese Wissenschaft vorgedrungen, wie Sie konnten. Aber Sie wissen eben nicht alles. Sie haben noch längst nicht alles gesehen. Die Reise an Bord meines Schiffes wird Ihnen deshalb vielleicht etwas mehr Vergnügen bereiten als Ihren Gefährten. Sie werden durch ein Land der Wunder reisen, dessen Schauspiele Ihre Seele mit Staunen füllen können. Ich habe vor, noch einmal, vielleicht zum letzten Mal, unter den Meeren um die Welt zu fahren, um meine Tiefseestudien abzuschließen. Sie sollen mein Studiengefährte sein. Sie werden sehen, was noch keines Menschen Auge sah – denn wir hier unten zählen nicht mehr zu den Menschen –, und ich werde Ihnen die letzten Geheimnisse unseres Planeten enthüllen.«
»Ich nehme an, Monsieur«, antwortete ich, »dass Sie trotz des Bruches mit der Menschheit nicht alles menschliche Gefühl verloren haben. Wir sind als Schiffbrüchige barmherzig aufgenommen worden, das soll nicht vergessen werden. Was mich betrifft: Ich weiß, dass die Wissenschaft den Menschen so besitzen kann, dass er sein Freiheitsbedürfnis darüber vergisst, und ich freue mich auf unsere kommenden Unternehmungen.« Er gab mir nicht die Hand. Mir tat es leid, um seinetwillen. Eine Frage hatte ich noch: »Mit welchem Namen dürfen wir Sie anreden?«
»Ich bin Nemo, Kapitän Nemo, und dieses Schiff ist die Nautilus.«
Er rief einen Steward, gab ihm Befehle und wandte sich dann an Conseil und Ned Land: »In Ihrer Kabine wartet ein Menü auf Sie. Bitte gehen Sie mit diesem Herrn!«
Auch ich wurde zum Essen eingeladen. Ich folgte dem Kapitän Nemo durch einen elektrisch erleuchteten, 10 m langen Gang, an dessen Ende wir durch eine Tür traten. Wir befanden uns im Speisesaal, der mit entschiedenem Geschmack dekoriert und möbliert war. An beiden Enden standen hohe eichene Anrichten mit reichen Intarsien, darin befanden sich prächtige Geschirre, Fayencen, Porzellan und Glas von unschätzbarem Wert. Das Tafelsilber glänzte im Licht der indirekten Deckenbeleuchtung, deren Helligkeit durch stilvolles Malwerk gemildert wurde.
Der Tisch in der Mitte des Raumes war reich gedeckt. Nemo wies mir meinen Platz und forderte mich auf, kräftig zuzugreifen. Die Gerichte hatte offensichtlich das Meer allein geliefert, sie besaßen alle den jodigen Beigeschmack, an den man sich aber rasch gewöhnt. Kapitän Nemo merkte, dass ich mir jeden Bissen so genau
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