2001 Himmelsfeuer
bei Sonnenaufgang zur Aufgabe, einen weiteren Tag zu bewältigen, und überließ die Geheimnisse um Leben und Tod den Schamanen.
Und dann kam der Tag, an dem sie sich ihrer wahren Stärke bewusst wurde. In den langen Wochen, in denen sie Opaka verfolgt hatte, war diese immer nervöser geworden. Nur noch verstohlen verließ sie ihre Hütte oder betrat ängstlich den Wald, stets auf der Hut vor dem allgegenwärtigen Mädchen. Ihre alten Hände fingen an zu zittern, sie wurde unwirsch, zusehends verschreckter. Sie durfte dieses Wesen nicht beachten, und doch machte ihr dieses Wesen zu schaffen, peinigte ihre angegriffenen Nerven. Und eines Tages erlebte Marimi, wie Opaka am Bach plötzlich herumwirbelte und aufschrie und mit ihren heiligen Stöcken rasselte und einen Gesang anstimmte, in einer Sprache, die Marimi fremd war. Marimi blieb unbeirrt stehen, hoch aufgerichtet und stolz, ihr geschwollener Leib Beweis ihrer Lebenskraft und der Willensstärke, die sie vor dem Tod bewahrt hatte. Die alte Frau verstummte und beide starrten sich an. Selbst die Geräusche des Waldes verebbten, so als wären sich Gespenster und Geister, Vögel und kleine Tiere bewusst, dass eine entscheidende Wende stattfand. Schließlich wandte Opaka den Blick ab, kehrte dem Geistermädchen, das sich dem Tod verweigert hatte, den Rücken zu und verschwand zwischen den Bäumen.
Wie ein scharfes, schnell geführtes Messer bohrte sich eines Morgens das grelle Sonnenlicht in Marimis Augen. Reglos lag sie da, apathisch, aber mit dem Kopfschmerz stellte sich eine Vision ein – der Rabe, ihr Schutzgeist, saß auf einem Ast, blinzelte ihr aus kohlschwarzen Augen zu. Und diesmal hörte sie ihn flüstern: »Folge mir.«
Marimi raffte die Kräuter und Pflanzen zusammen, die sie im Lande der Toten gesammelt hatte, auch die Beutel aus Kaninchenfell, die sie gefertigt und mit Samenkörnern und Blättern und Wurzeln gefüllt hatte. »Wir brechen auf«, sagte sie zu Payat und nahm ihn bei der Hand. Von einem seltsamen neuen Vorsatz erfüllt, war sie nicht länger ängstlich darauf bedacht, die Gesetze und Tabus des Stammes zu befolgen. Sie ging leise zur Unterkunft ihrer noch schlafenden Familie und ergriff ihre Habe, die die Mutter noch nicht vergraben hatte. Sie kauerte sich neben die schlummernde Mutter, und erschrocken darüber, wie alt und hinfällig sie während der langen Trauerzeit geworden war, beugte sie sich über die Schlafende und flüsterte: »Trauere nicht mehr um mich. Ich folge jetzt meinem Raben. Mein Schicksal ist nicht länger mit dieser Familie verknüpft. Ich kann niemals mehr zurückkommen, Mutter, aber in meinem Herzen bleibst du bei mir. Und wann immer du einen Raben erblickst, halte inne und höre zu, was er sagt, denn es könnte der sein, der dir eine Nachricht von mir überbringt. Eine Nachricht, die besagt, dass ich in Sicherheit bin und glücklich und dass ich meine Bestimmung gefunden habe.«
Sie verließ die Hütte und das Lager in ihren schönsten Kleidern, einem langen Rock aus Rehleder und einem Umhang aus Kaninchenfell sowie aus Gras geflochtenen Sandalen. Auf dem Rücken trug sie ihre zusammengerollte Schlafmatte, die sie selbst aus Schilfrohr gefertigt hatte, eine Decke aus Kaninchenfell und die geflochtene Unterlage für das im Frühjahr zu erwartende Baby. Darüber hinaus nahm sie einen Korb zum Sammeln von Samenkörnern mit, einen Speer mit Speerschleuder, Feueranzünder und Beutel mit Heilkräutern. Nicht umsonst hatte der Rabe ihr bedeutet, Opaka zu beobachten und sich mit den Lehren der Medizinfrau vertraut zu machen: Marimi sollte sich auf die weite Reise vorbereiten.
Wenn auch die Topaa auf ihrer unaufhörlichen Suche nach Nahrung ausgedehnte Streifzüge unternahmen, gab es doch Grenzen, und schon von klein auf lehrte man sie, dass »das Land da drüben« den Vorfahren eines anderen Stammes gehörte und es zu betreten den Topaa somit untersagt war. Marimi indes ahnte, dass sie, als sie mit Payat dem vorausfliegenden Raben folgte, zum ersten Mal in der Geschichte ihres Volkes auf verbotenes Gebiet geführt werden würde.
Sie marschierten den ganzen Tag über. Als sie die äußerste Grenze im Westen des Topaa-Landes erreichten, ging Marimi zaghaft auf die Böschung zu, hinter der sich unbekanntes Gebiet erstreckte, mit nie gesehenen Bergen und Pflanzen und demzufolge auch fremden Geistern. Sie schaute über das wüstenähnliche Tal, das sich bis zum Horizont erstreckte. Sie wusste, dass äußerste Vorsicht
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