2001 Himmelsfeuer
Nussschalen. Manchmal wiesen diese Überreste weit in die Vergangenheit zurück, beispielsweise Felszeichnungen, die aussahen, als wären sie vor Urzeiten in den Stein geritzt worden. Marimi war es, als würden die Geister der Menschen aus jener Zeit ihren und Payats Weg durch das fremdartige Land begleiten, über den heißen Sand, im Schatten mächtiger Dattelpalmen. Dann fragte sie sich, was wohl die Geister von diesen Eindringlingen hielten, die da über das ihnen angestammte Land zogen, und bat sie jedes Mal um Nachsicht, versicherte sie ihrer und Payats Hochachtung.
Der Mond hatte sich seit der Nacht, da Marimi zu ihm gebetet hatte, bereits fünfmal erneuert, unablässig und voller Ehrfurcht beobachtet von der jungen Frau. Nur der Mond konnte in einem endlosen Zyklus von Tod und Geburt vergehen und wieder geboren werden, und nur der Mond spendete des Nachts, wo es gebraucht wurde, Licht, wohingegen die Sonne tagsüber leuchtete, wenn man keines benötigte. Und wenn sie unter dem Mondlicht dahinwanderte, schritt Marimi trotz der Last auf ihrem Rücken und in ihrem Leib zügiger aus, fühlte die Kraft des Mondes durch ihre Adern fließen. Mit jedem Schritt wuchs ihre Energie.
Auf ihrem schier endlosen Weg immer in westlicher Richtung ließ sie ihre Gedanken zu den Sternen fliegen, dort verweilen und dann mit neuem Wissen zurückkehren. Sie wusste bereits etwas, das zu wissen ihrem Volk versagt worden war: dass ein jeder zu den Göttern beten konnte, ohne die Fürsprache eines Schamanen. Die Erfahrung hatte sie auch gelehrt, dass die Welt nicht unbedingt, wie die Topaa glaubten, feindselig war. Gewiss, da gab es überall Geister, aber sie waren nicht ausschließlich böse. Es gab auch freundlich gesinnte, die man um Hilfe und Beistand anrufen konnte, etwa die Vögel, die in der Dämmerung am Himmel kreisten und dadurch auf eine Wasserstelle unter sich hinwiesen. Während die Schamanen der Topaa ihrem Volk weismachten, einzig Furcht sichere das Überleben, lernte Marimi im Laufe ihrer langen Wanderung über Geröll und vorbei an Kakteen, herumlungernden Kojoten und behäbig dahinziehenden Schildkröten, dass gegenseitige Achtung und gegenseitiges Vertrauen ebenfalls dazu beitrugen, am Leben zu bleiben.
Wenn der Mond nachts mit seinem Licht die karge Landschaft verklärte und ihren Weg beleuchtete, konnte Marimi einfach nicht begreifen, warum die Topaa die Mondgöttin für zornig und furchterregend hielten. Es war nicht nur tabu, zum Mond emporzuschauen; das Volk fürchtete die Göttin wegen ihrer uneingeschränkten Macht über Menstruationsblut, Geburtszyklen und die unergründlichen Geheimnisse der Frauen. Genauso fürchteten die Topaa die Sonne. Sie verbrannte die Haut und entfachte Feuer, löste Dürreperioden aus, war ständig feindlich gesinnt und nur durch die Fürsprache eines Schamanen zu besänftigen. Marimi und Payat dagegen lernten die warme Sonne morgens auf ihren Gliedern schätzen, und sie beobachteten, wie die Blumen sich der Sonne zuwandten und ihren Lauf am Himmel verfolgten. Demnach konnte nach Marimis Verständnis das, was ihr Volk fürchtete, auch geliebt werden, und sie fing an, den Gott der Sonne als Vater anzusehen, der zwar unerbittlich, aber wohlwollend war, und die Göttin des Mondes als milde, liebevolle Mutter.
Jetzt aber befanden sie sich in einer Gegend, in der es kein Wasser gab, keine Beeren oder Samenkörner, und das, was sie an Büschen fanden, war bitter und trocken. Selbst kleine Tiere verkrochen sich in ihren Bau. Marimi trug den Jungen auf dem Rücken, und weil sich ihre Sandalen längst aufgelöst hatten, waren ihre nackten Füße wund und bluteten. Sie lutschten an Kieseln herum, um den Durst zu betäuben. Sie machten an ausgetrockneten Flussbetten Halt, die ja gelegentlich unterhalb der Oberfläche, am tiefsten Punkt an der Innenseite einer Krümmung, noch einen Rest Wasser aufweisen. Aber sie stießen auf keins.
Schließlich konnten sie nicht mehr weiter. Marimi bettete Payat auf den Sand und reckte sich. Ihr Baby strampelte unentwegt, als wäre es ebenfalls durstig. Als sie nach ihrem Raben Ausschau hielt, konnte sie ihn nirgends entdecken.
Hatte ihr Schutzgeist sie in dieser rauen Wildnis allein gelassen? Hatten sie und Payat unterwegs versehentlich irgendeinen Geist gekränkt, möglicherweise eine Schlange verschreckt oder nicht genug Dankbarkeit bezeugt, als sie die letzte Kaktusfrucht zerteilt hatten?
Die Hand schützend über den Augen, musterte sie die öde
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