2001 Himmelsfeuer
Aber das Fitnesscenter war heute wegen Wartungsarbeiten geschlossen, Tiger und Tigerinnen mussten zusehen, wo sie anderswo in Los Angeles ihre Energie und ihre Frustrationen austoben konnten. Allein der körperlichen Fitness wegen ging Jared, wie die meisten Mitglieder auch, nicht in den Club.
Als er sich in dem Wirrwar seines temporären Zuhauses/Büros umsah – der Computer, der nie ausgeschaltet wurde, die Telefone, die unentwegt klingelten, das Fax, das eine Nachricht nach der anderen ausspuckte, und das viele Papier, aufeinander geschichtet oder verstreut herumliegend, als ob ein Schneesturm eine Handbreit hoch Dokumente, Schriftsätze, Kurzmitteilungen, Briefe, Verträge, Beschlüsse hereingetrieben hätte –, befand er, dass das Wohnmobil trotz seiner Ausmaße zu eng für ihn und seinen Ingrimm war. Er griff nach einer Jacke und stürzte hinaus in die frische Nachtluft.
Am Rande der Mesa, auf einem Felsvorsprung über dem Meer, stand ein entzückender Pavillon im viktorianischen Stil, eine Hinterlassenschaft von Sister Sarah und ihrer Kirche der Geister. Der Bauherr von Emerald Hills Estates hatte ihn restaurieren lassen und dann das umliegende Gelände zu einem kleinen Park für die Bewohner umgestaltet. Bedauerlicherweise war die Anhöhe zur gefährdeten Zone deklariert worden; entsprechende Warntafeln hatten Wirkung gezeigt und hielten Spaziergänger fern. Gerade deshalb kam Erica gern hierher.
Seit ihrem ersten Besuch vor ein paar Wochen vermittelte ihr dieser Ort das Gefühl von Frieden. Vielleicht lag das daran, dass sie dann weg vom Camp und ihrer Arbeit war, fernab vom hektischen Getriebe der mit Feuereifer werkelnden Praktikanten und der übrigen Crew. Oder war es einfach die Atmosphäre, die von diesem bezaubernden Pavillon ausging, dem Relikt einer weniger hektischen Vergangenheit, Symbol einer weniger turbulenten Zeit?
Sie warf einen Blick auf das Buch in ihrer Hand. Was hatte Sister Sarah hierher gezogen? Hatte sie auf diesem Bergkamm einen unerklärlichen Frieden verspürt, oder …
Sie erschrak, als sie plötzlich daran dachte, dass damals der Canyon ja noch gar nicht aufgeschüttet war und somit der Zugang zur Höhle frei gelegen hatte. War Sarah hineingegangen und hatte sich das Bild angeschaut und es als Omen gedeutet, hier ihre Kirche zu errichten? Ihren Ausführungen nach hatte sie diese Gegend zum Standort für ihren Tempel des Spiritualismus bestimmt, weil von hier aus Verbindung zur Anderen Welt bestand. Was genau aber bedeutete das? Hatte sie ihre Kirche des Paranormalen hierher gebaut, weil man den Canyon »den der Geister« nannte? Zog es sie gerade deshalb an, weil die Mär umging, hier lebten bereits Geister? Erica hatte gerade erst mit der Lektüre der Biographie dieser rätselhaften Gestalt aus den zwanziger Jahren begonnen, dieser Frau, deren Gesicht jedem Amerikaner aus Zeitungen, Zeitschriften und Wochenschauen wohl vertraut war – eine schillernde Persönlichkeit, deren Theatralik und beschwörende Stimme ein gefundenes Fressen für Karikaturen und Gesellschaftskomödien waren, während praktisch niemand etwas über ihr Privatleben oder ihre Vergangenheit wusste. Sister Sarah war aus dem Nichts aufgetaucht, über Nacht zur Sensation geworden und dann ebenso rasch und unter mysteriösen Umständen wieder in der Versenkung verschwunden. Auch ihre Glaubensgemeinschaft hatte nicht überlebt.
Erica betrat den Pavillon, der im Mondlicht wie eine Hochzeitstorte leuchtete, und als sie mit der Hand über die Holzkonstruktion fuhr, war ihr, als summe sie vor Geschichten – von geraubten Küssen und gebrochenen Versprechen, von Rendezvous im Mondenschein und Séancen für die Toten. Musik und Liebe und Enttäuschung und Gier und spirituelle Kontemplation waren über die Jahrzehnte hinweg von diesen alten Brettern absorbiert worden, bis der Pavillon unter der Last der unterschiedlichen Lebensweisen, die hier ihre Spuren hinterlassen hatten, vibrierte.
Als sie über das Meer blickte, fragte sie sich, ob ihrer Mutter, wo immer sie sich gerade aufhielt – auf den Champs-Élysées in Paris oder an einem Karibikstrand –, nicht etwas abging.
In diesem Augenblick spaziert sie durch den Central Park, am Arm ihres zweiten Ehemanns, einem Zahnarzt, und hat das Gefühl, dass ihr etwas fehlt. Sie weiß nicht, dass dreitausend Meilen weiter weg das, was ihr fehlt, ihre Tochter nämlich, herumläuft, atmet, träumt.
Erica strich sich das Haar zurück, als sie plötzlich
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