2001 Himmelsfeuer
drehte man den Mann auf den Rücken. Ein Aufschrei wie aus einem Munde. Er hatte zwei Augenpaare! »Ein Ungeheuer!« – »Ein Teufel!« – »Werft ihn wieder ins Meer!«
Marimi gebot erneut Schweigen und musterte den Fremden eingehend. Er war sehr groß und besaß ein eigenartig schmales Gesicht, eine lange, gebogene Nase und blasse Haut. Und diese Augen! War er etwa ein Vorfahre, zumal er von dort gekommen war, wo die Geister der Toten wohnen, weit draußen im Westen, jenseits des Ozeans? Vielleicht hatte man ja nach dem Tod dem Geist ein zweites Paar Augen gegeben.
Sie kniete sich hin und legte die Fingerspitzen an seinen kalten Hals. Ganz schwach spürte sie einen Rest Leben pulsieren. Am liebsten hätte sie sich in ihre Höhle zurückgezogen und den Rat der Ersten Mutter eingeholt, aber der Fremde stand auf der Schwelle zum Tod, es blieb keine Zeit.
Marimi richtete sich auf und befahl fünf kräftigen Männern, den Fremden in ihre Unterkunft am Rande des Dorfes zu bringen.
Sie sprach ein stilles Gebet. Dieses zweite Paar Augen! War das Magie? Konnte er sie sehen, trotz der geschlossenen Lider? War er möglicherweise doch ein Ungeheuer?
Aber er kam aus dem Westen, aus dem Land der Vorfahren …
»Freundliche Besucher«, hatten die Händler aus dem Süden gesagt.
Als Erstes musste sie ihn entkleiden. Sie fing bei seiner komischen Kopfbedeckung an, die nicht wie die der Topaa aus Gräsern gefertigt war, sondern aus einer ihr unbekannten Haut. Als sie sie vorsichtig entfernte, schrie sie auf. Sein Haar brannte lichterloh! Sie runzelte die Stirn. Wie konnte sein Haar brennen, ohne ihm den Schädel zu versengen? Sie sah genauer hin, berührte zögernd die Locken von der Farbe des Sonnenuntergangs. Er musste mit seinem Boot zu weit hinausgefahren sein, und sein Kopf war an die Sonne gestoßen. Das konnte die einzige Erklärung sein. Das flammend rote Haar war zudem sehr kurz, fast bis auf die Kopfhaut gestutzt; sein Kinn dagegen und die Oberlippe waren mit längerem, kratzig-gelocktem Haar bedeckt! Die Männer der Topaa trugen ihr Haar lang, und in ihrem Gesicht wuchs nichts dergleichen.
Sie betrachtete die Schichten, die seinen Körper vom Hals bis zu den Zehen verhüllten und nur das Gesicht und die Hände freigaben. Was sich darunter verbarg, konnte sie sich nicht vorstellen. Die Männer ihres Stammes trugen nichts außer einem Strick um die Hüften, an dem sie Proviant und Werkzeug befestigten. Hatte der Fremdling unter seinen Schichten Ähnliches vorzuweisen?
Marimi wusste weder, dass jede dieser Häute einen besonderen Namen hatte, noch dass sie dabei war, den Unbekannten aus einigen der edelsten Gewebe europäischer Herkunft zu schälen, noch dass Schnitt und Machart dieser Schichten dazu gedacht waren, die Würde und Wohlhabenheit des Trägers zum Ausdruck zu bringen. Da war zunächst ein gestepptes schwarzer Wams aus Samt mit geschlitzten Ärmeln, die das feine weiße Leinenhemd darunter zur Geltung brachten; über dem Wams trug der Mann einen roten Brokatrock mit Gürtel, der wie eine Art Faltenrock die Knie umspielte und durch den ein Hosenlatz aus rotem Samt spitzte. Die Strümpfe waren weiß und am Knie gebunden, die gesteppten Bundhosen aus schwarzem Samt. Auch der Hut mit der niederen Stulpe und breiten Krempe, den Marimi beiseite gelegt hatte, war aus schwarzem Samt und mit Pelz und Perlen verbrämt. Die Manschetten der Hemdärmel waren mit Rüschen gesäumt, das Hemd selbst um den Hals herum gefältelt. Als sie zu guter Letzt seine Füße aus ihrer eigenwilligen Verschnürung löste, stellte sie fest, dass sie weich waren und ohne Hornhaut, so wie auch seine Hände weich und zart waren wie die eines Kindes.
Jetzt, da er nackt vor ihr lag, gewahrte sie das sonnenfeurige Haar an seinen Leisten. Wie hatte die Sonne ihn dort streifen können? Seine Haut war zart und bleich, so weiß wie die Schaumkronen auf der allmorgendlichen Flut. Und dann sah sie die gereizte Färbung an seinen Beinen und Armen und als grindigen Ring um seinen Hals. Sogleich war ihr klar, was ihm zu schaffen machte.
Aber zunächst brauchte er Wasser. Sie richtete ihn leicht auf, stützte ihn unterhalb der Schulter, und es gelang ihr, ihm die Flüssigkeit zwischen die rissigen, aufgeplatzten Lippen zu tröpfeln. Als er beim Schlucken nicht länger husten musste, legte sie ihn wieder hin und holte den Behälter mit ihren Heilmitteln, einen Binsenkorb, in dem sich ein kleiner Stößel befand sowie ein Mörser aus
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