2001 Himmelsfeuer
Marimi Blumen darauf legte, sagte sie: »Wir bringen der Ersten Mutter stets ein Geschenk mit.« Dann zeigte sie ihm das Bild an der Wand und berichtete ihm von der ersten Marimi.
»Ich erzähle dir das, Godfredo, weil du hier« – sie legte ihm die Hand auf die Brust – »eine Leere hast. Das ist nicht gut, denn wenn man diese Leere nicht mit Glauben ausfüllt, nisten sich böse Geister darin ein. Die Geister der Traurigkeit und Verbitterung, der Eifersucht und des Hasses. Ich habe dich hierher geführt, Godfredo, um diese Leere mit der Weisheit der Ersten Mutter zu füllen.«
Godfredo sah auf die kupferbraune Hand auf seinem Hemd, das einstmals weiß gewesen war. Er blickte in die arglosen und doch wissenden Augen des Indianermädchens, wurde sich der mächtigen Felsen um sich herum bewusst, vernahm in der Dunkelheit seltsames Raunen, spürte, wie ihn Schatten umhuschten, aufmerksam, lauernd. Die Höhle erinnerte ihn an eine Grotte, die er als Kind besichtigt hatte und von der es hieß, ein frommer Mann habe dort heilsames Wasser gefunden. Vielleicht gab es ja wirklich so etwas wie wunderträchtige Höhlen, vielleicht war Marimis Erste Mutter tatsächlich hier.
Wie die Topaa-Männer hatte auch Godfredo inzwischen immer Werkzeug bei sich, und jetzt zog er aus dem Lederbeutel an seiner Hüfte einen schwarz glänzenden Obsidian heraus, mit dessen scharfer Kante er auf eine glatte Fläche in der Felswand die Worte
La Primera Madre
ritzte. Dann sagte er lächelnd: »Damit alle künftigen Generationen wissen, wer hier ruht.«
Voller Bewunderung betrachtete Marimi die seltsamen Zeichen. Als Godfredo seine Karte angefertigt und an seiner Chronik geschrieben hatte, war er gleichzeitig bemüht gewesen, ihr das Lesen beizubringen. Als sie jetzt die eben eingeritzten Buchstaben sah, begriff sie urplötzlich. Sie fuhr jeden mit der Fingerspitze nach, sprach sie einzeln aus, verstand ihre Bedeutung.
Godfredo war hingerissen, als er sie dabei beobachtete, und hörte, wie sie die Worte vor sich hin flüsterte. Hier war das Wunder, nach dem er sich gesehnt hatte, die Verwirklichung seiner Tagträume: Er hatte Marimi etwas aus seiner Welt vermittelt. Und in diesem Augenblick spürte er, dass seine Begierde in ein zärtlicheres Gefühl überging. Er verliebte sich in sie.
Er griff nach ihrer Hand und zwang sie, ihn anzusehen. »Wegen dieser Ersten Mutter bist du Jungfrau?«
»Ja.«
»Wie die Nonnen in Spanien, die ihre Jungfräulichkeit der Mutter Gottes weihen. Marimi, ich kann genauso wenig an deine Erste Mutter glauben wie an eine andere Erste Mutter namens Maria. Aber ich respektiere deinen Glauben und deine Gelübde. Ich werde dich nicht mehr bitten, mit mir zu kommen, weil ich jetzt einsehe, dass das nicht geht. Aber ich kann auch nicht länger bei dir und deinem Volk bleiben. Die Qual ist größer, als ein Sterblicher sie zu ertragen vermag. Ich verlasse dich.«
Als sie zu weinen anfing, schloss er sie in die Arme. Ein Schauer überlief ihn, als ihm bewusst wurde, dass er sie jetzt zum letzten Mal sah.
Er ließ sie los und trat zurück, zwang sich zu sagen: »Du hast erwähnt, dass wir niemals die Erste Mutter besuchen, ohne ein Geschenk zu hinterlassen.« Er nahm seine Augengläser ab und reichte sie Marimi. »Dies ist mein Geschenk für sie.« Und unvermittelt hatte er eine Vision von der Zukunft. »Männer werden kommen und euch vernichten«, stieß er aus. »Ich habe das miterlebt, bei den Völkern im Süden. Sie kommen mit ihren Schriftgelehrten und ihren Priestern und ihren klugen Männern und ihren Soldaten und werden euch das wenige, was ihr habt, wegnehmen und nichts dafür geben, außer dass sie euch unterjochen, wie sie die Azteken und die Inkas unterjocht haben und alle anderen Regionen, in die Europäer ihren Fuß setzten. Deshalb mache ich mich in den Süden auf, nach Baja California, um diesen so genannten zivilisierten Menschen zu sagen, dass sie hier oben nichts finden. Mit einem bisschen Glück wirst du mit deinem Volk in Ruhe gelassen, zumindest eine Zeit lang.«
Er ging, und Marimi, die in der Höhle zurückblieb, meinte, das Herz müsse ihr zerspringen. Zum ersten Mal wollte sie nicht die auserwählte Dienerin der Ersten Mutter sein. Sie wollte Godfredo.
Sie sah auf die Augengläser in ihrer Hand, diese wundersamen Augen, die einem ermöglichten, andere Welten zu schauen. Sie klemmte sie sich auf die Nase, musterte erst die Buchstaben, die das Wort Erste Mutter ergaben, dann das Wandbild.
Weitere Kostenlose Bücher