2001 Himmelsfeuer
Sie hielt den Atem an. Die Piktogramme waren größer geworden! Sie nahmen ihr gesamtes Blickfeld ein und enthüllten jetzt winzige Details und Unebenheiten, die sie noch nie bemerkt hatte. Und als sie den Kopf bewegte, schienen sich auch die Symbole zu bewegen!
Unvermittelt schoss ihr ein Schmerz durch den Schädel. Sie schrie auf und sank in die Knie, sackte dann zur Seite, als das altvertraute Leiden sie überkam, alles um sie herum schwarz werden ließ und dann in eine tiefe Ohnmacht überging.
Die Erste Mutter erschien ihr, eine schemenhafte, flimmernde Vision, die sich mehr durch Gesten denn Worte mitteilte, und was sie ihrer Dienerin Marimi zu verstehen gab, war, dass Enthaltsamkeit ein Gesetz der Menschen und nicht der Götter war. Der Ersten Mutter zufolge sollten ihre Töchter fruchtbar sein.
Als Marimi erwachte und der Kopfschmerz abgeklungen war, nahm sie Godfredos wundersame Augen ab, die ihr, wie sie tief beeindruckt feststellte, erlaubt hatten, sich in die übernatürliche Welt zu begeben, wo sie eine Nachricht von der Ersten Mutter erhalten hatte. Erregt rannte sie aus der Höhle und das Tal entlang, holte Godfredo bei den Findlingsblöcken ein, in die die Symbole des Raben und des Mondes geritzt waren. »Ich will deine Frau sein«, sagte sie.
Weil die Erste Mutter zu Marimi gesprochen hatte und Godfredo kein gewöhnlicher Mann war, sondern von Westen gekommen war, über das Meer, wo die Ahnen lebten, kamen die Häuptlinge und Unterhäuptlinge und Schamanen überein, ihnen die Heirat zu gestatten. Zunächst aber musste die Welt der Geister befragt werden. Fünf Tage lang blieben die Schamanen in der Schwitzhütte, verzehrten Stechäpfel und deuteten ihre Visionen, während Marimi und Godfredo fasteten und beteten und sich auf jede andere Weise in Enthaltsamkeit übten. Als die Stammesältesten wieder erschienen, erklärten sie Godfredo zu einem wiedergeborenen Vorfahren, zu einem von den Göttern gesandten Mann als Gatten für ihre Medizinfrau, deren Macht und die des Stammes durch die körperliche Vereinigung mit ihm gestärkt würde.
Das Hochzeitsfest dauerte fünf Tage. Es wurde ausgiebig gespeist, getanzt, dem Glücksspiel gefrönt. Als in der letzten Nacht zum Höhepunkt der Feierlichkeiten unter dem vollen Mond ein Fruchtbarkeitsritual abgehalten wurde, an dem sich alle Mitglieder des Stammes beteiligten, auf eine Weise, die er dereinst als unmoralisch erachtet hatte, lag Godfredo in Marimis Armen und erfuhr zum ersten Mal, was es bedeutete, wunschlos glücklich zu sein.
Es kam der Tag, da vom Strand her vermeldet wurde, am Horizont seien Segel gesichtet worden. Eilends packte Godfredo seine Landkarten und die Chronik zusammen und rannte erwartungsvoll zum Strand, von wo aus man draußen auf dem Meer tatsächlich erkennen konnte, dass sich Umrisse von Leinwänden gegen das Blau des Himmels abhoben. Marimi gesellte sich zu ihrem Mann, ihr erstes Kind auf dem Arm. Nicht lange danach, als bereits der gesamte Stamm die Dünen bevölkerte, machte sich Marimi daran, das Freudenfeuer zu entfachen. Als sie jedoch die Spindel in Bewegung setzte, griff Godfredo ein. Ihm war etwas klar geworden, was er bisher nicht bedacht hatte: Wenn er Marimi mit nach Spanien nahm, würde sie dort ebenso viel Aufsehen erregen wie die Wilden von Kolumbus an Isabellas Hof, ein Wesen, das man anstarren, über das man vielleicht sogar lachen würde. Man würde sie ihrer Würde und ihrer Seele berauben; sie würde verdorren und eingehen wie eine entwurzelte Blume. Auch er, so erkannte er plötzlich, konnte nicht gehen und seine geliebte Marimi und den gemeinsamen Sohn verlassen.
Er warf seine Karten und die Chronik auf den noch nicht entzündeten Holzstoß, auf dass das Pergament im Laufe der Zeit feucht werden und verrotten und von der Flut weggespült würde, und kehrte den Segeln am Horizont den Rücken, um sich mit Marimi wieder in ihr gemeinsames Zuhause zu begeben.
Im Laufe der Wochen und Monate, schließlich der Jahre, die ins Land zogen, ging eine merkwürdige Veränderung mit Godfredo vor sich: Nach und nach fand er es ungemein erbauend, nachts am Lagerfeuer den Geschichten zu lauschen, Erzählungen, die von Generation zu Generation weitergegeben worden waren und die die Zuhörer fesselten, sie aufseufzen oder schmunzeln ließen, wenn sie nicht gar die kühnen Unternehmungen ihrer Vorfahren mit lautem Beifall bedachten oder den Atem anhielten, wenn sie hörten, wie Schildkröte Kojote ausgetrickst
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