2001 Himmelsfeuer
schaute und einen Augenblick lang vergaß, was er damit vorgehabt hatte. Seit Bernard das Ordensgewand der Franziskaner angelegt hatte, war er häufig durch die Kontemplation himmlischer Dinge in den Zustand göttlicher Ekstase versetzt worden. Welch eine Gnade, dieses wunderbare Gottesgeschenk zu erhalten! Felipe träumte häufig davon, fragte sich, wie Bruder Bernard zumute gewesen sein musste, als eines Tages während der Messe sein Geist zu Gott emporgehoben wurde und er wie versteinert und völlig entrückt, den Blick himmelwärts gerichtet, von der Morgenandacht bis zur None unbeweglich verharrte! Fünfzehn Jahre lang war Bruder Bernard mit diesem Geschenk belohnt worden, hatte Herz und Antlitz täglich zu Gott erhoben. Seine Gedanken waren derart allem Irdischen abgekehrt, dass Bernard gleich einer Taube über die Erde schwebte und zuweilen dreißig Tage auf dem Gipfel eines hohen Berges verharrte, in die Betrachtung göttlicher Dinge versenkt.
Felipe träumte davon, belohnt zu werden wie ein Weggefährte des heiligen Franziskus, Bruder Masseo nämlich, der, nachdem er sich betend in seiner Zelle gegeißelt hatte, einen Wald betrat und den Herrn unter Tränen anflehte, ihm göttliche Tugendhaftigkeit zu gewähren. Daraufhin war vom Himmel die Stimme Christi zu vernehmen: »Was gibst du hin für diese Tugendhaftigkeit, die du suchst?« Und Bruder Masseo antwortete: »Herr, ich schenke dir mit Freuden mein Augenlicht.« Und der Herr erwiderte: »Ich gewähre dir die Tugend der Reinheit und befehle dir, dein Augenlicht zu behalten.«
Die Stimme Christi vernehmen! Felipe erschauerte unter seiner schweren Wollkutte. Deshalb war er in diese Wildnis gekommen: göttliche Erleuchtung zu erfahren, Sein Antlitz zu schauen. Als Gott ihn zum Missionsdienst berief, war Felipe umgehend diesem Ruf gefolgt. Welch eine Freude hatte in seinem Heimatdorf geherrscht, als bekannt wurde, dass man ihn für die Mission in Alta California auserwählt hatte! Wie stolz war sein Vater gewesen. Alle waren sie in der kleinen Kirche zusammengeströmt, um für Felipe und den Erfolg seiner Mission zu beten. Und wie erwartungsvoll hatte Felipes Herz gepocht, wie sicher war er sich gewesen, dass in diesem entlegenen Land sein Traum, dem Erlöser persönlich zu begegnen, in Erfüllung gehen würde.
Immer wieder auf der langen Reise um die halbe Welt hatte Felipe sich vorzustellen versucht, wie es vor sechs Jahren gewesen sein musste, an jenem Tag, da die Padres den Fluss Porciuncula erreichten und dort von einer Überzahl Eingeborener mit hoch erhobenen Speeren sowie Pfeil und Bogen bedroht wurden. In ihrer Todesangst hatten die Padres den Wilden ein Ölgemälde Unserer lieben Frau und schmerzensreichen Mutter entgegengehalten. Und ein Wunder war geschehen! Die Heiden hatten sofort erkannt, dass die Heilige Jungfrau unter ihnen weilte, und ihre Waffen niedergelegt.
Für Felipe war das ein Zeichen dafür, dass demütige Menschen hier Gnade finden würden.
Gnade …
Er vergaß die Blumen in der Hand und die junge Indianerin an seiner Seite und starrte lange zum Horizont. Und eine Stimme in ihm sagte:
San Francisco, der du Tag für Tag zum Herrn sprachst und der du im italienischen Porciuncula auf dem Sterbebett lagst und darum batest, auf dem Friedhof der Verbrecher bestattet zu werden – ich wünsche mir das Gleiche. Ich wünsche mir, dass mein Leichnam in einem bescheidenen Grab in verabscheuungswürdiger Erde ruht.
Der Heilige hatte sich selbst als die »widerwärtigste Kreatur Gottes« bezeichnet. Auch Felipe drängte es, sich derart zu erniedrigen. Bespucken und mit Dreck bewerfen sollte man ihn; er würde die Demütigung ebenso willkommen heißen wie Francisco und seine Mitbrüder. Nur …
Und jetzt meldete sich wieder die zusätzliche Pein, die ihn quälte und mit jedem Tag unerträglicher wurde, die Pein des Zweifelns und der Schuld und der Selbstverachtung. Ausgelöst worden war sie eines Nachts im Stall, als er unterwürfig im Kuhdung gelegen und um Ekstase gefleht und eine innere Stimme ihm plötzlich zugeraunt hatte: Du Anmaßender! Ist nicht der Wunsch nach Demütigung ein Zeichen von Hochmut? Wie kannst du demütig sein und hochmütig zugleich?
Heiliger Gott, drängte es Felipe jetzt in diesem Garten auszurufen, in dem er seiner Arbeit nachging, unterstützt von diesem jungen Mädchen, das erst kürzlich zu Christus gefunden hatte. Schau auf mich, den erbärmlichsten deiner Diener! Werde Zeuge der Bestrafung, die ich
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