2012 – Das Ende aller Zeiten
hoteleigenen Krokolederpantoffels im Schotter aus. Es war eine beredte alte Geste, und sie vollführte sie keineswegs ohne Selbstsicherheit.
»Würde es helfen, wenn ich Sie anbettele?«, fragte ich. »Ich flehe Sie an. Ich muss es tun!« So viel zum Thema »cool bleiben«.
»Schauen wir mal, wie es in ein paar Stunden aussieht, wenn wir nicht mehr auf Reserve laufen«, sagte sie und fuhr sich mit den Händen über die Wangen, als probte sie eine Schönheitsoperation. »Sie wissen, es ist nicht leicht, die Leute dazu zu bewegen, ihre gesamten …«
»Bitte«, sagte ich. »Ich muss es tun.«
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An 9 Schädel, 19 Weiße, 11.14.18.12.6, oder dem 8. November 1519, als das selbst ernannte Heer Neu-Spaniens auf dem breiten östlichen Damm nach Tenochtitlán einmarschierte, war die aztekische Hauptstadt die viertgrößte Metropole der Welt, eine Kanalstadt ähnlich einem sauberen, geordneten Venedig mitten auf einem See, der damals 155 Quadratkilometer Zentralmexikos bedeckte. Im besten Augenzeugenbericht schildert Bernal Díaz, einer von Cortez’ Leutnants, die pastellfarben leuchtenden Paläste und Pyramiden, die sich aus dem Wasser erhoben, »erschienen wie eine zauberische Vision aus dem Reiche Amadís’, und tatsächlich fragten sich einige unserer Soldaten, ob es nicht alles nur ein Traum sei«.
Nun ist Amadís von Gallien bloß ein König-Artus-Verschnitt, den ein kleiner Geist namens Garci Ordóñez de Montalvo 1508 geschrieben hat; wirklich, es ist ein ziemlich mittelmäßiger Abenteuerroman, das damalige Gegenstück zu einem Tom Clancy. Er war schon lange ein leichtes Ziel gewesen, ehe Cervantes ihn auf die Schippe nahm. Und die Tatsache, dass diese Flasche von Söldner ausgerechnet an so etwas dachte, während er dabei half, die am längsten andauernden Völkermorde in der Geschichte des Planeten in die Wege zu leiten, geht über jedes Maß an Widerlichkeit hinaus.
Am schlimmsten aber daran ist, dass das Ganze wirklich ablief wie ein fantastischer Ritterroman. Die Conquista, oder wenigstens ihre erste Phase, hatte tatsächlich etwas von den legendären epischen Geschichten voller Wagemut dieser Zeit an sich. Die Spanier reisten wirklich an diesen unglaublichen Ort, drangen in ein prächtiges, feindseliges Reich ein, lernten exotische Völker kennen, massakrierten diese, triumphierten trotz überwältigender Unterlegenheit und wurden unermesslich reich. Sie konnten ihren Traum ausleben, und dalag das Problem. Menschen haben den Hang, ihre Halluzinationen in Wirklichkeit umzusetzen, und man muss gut aufpassen, wenn jemand seine Leidenschaft nimmt und sie, wie Irene Cara sagt, geschehen lässt. Trotzdem, in diesem Augenblick, als ich begriff – vage, wie sich herausstellen sollte –, was sie vorhatten, dachte ich überhaupt nicht an so etwas. Ich war ins Land von Amadís geglitten, in die Traumdimension der unbegrenzten Möglichkeiten, wo die Galaxis ihre Polarität umkehrt, Lolita einem ins Ohr flüstert und Moby Dick aus dem Meer auftaucht.
Marena wollte mir nicht sagen, was genau geplant wurde. Ich sagte mir jedoch, dass es keine konventionelle Science-Fiction-Zeitreise sein konnte, denn ich war mir ziemlich sicher, dass sie unmöglich war. Ihren Andeutungen und Ausflüchten zufolge ging es um eine Art Fernbeobachtung, was nicht sehr aktiv oder gefährlich sein konnte. Ich habe mir wohl vorgestellt, gemütlich in Taros Labor zu sitzen und eine alle fünf Sinne ansprechende VR -Übertragung von irgendeinem Gegenstück im Alten Mayaland zu genießen, während er zwei Addierern zusah, wie sie die volle Neun-Steine-Variante des Opferspiels spielten. Problem gelöst.
Marena sagte, ihr sei selbst schon der Gedanke gekommen, mich anstelle von Sic bei dem Vorhaben einzusetzen, das man »Projekt Count Chocula« getauft hatte – anscheinend waren alle Warren-Geheimprojekte nach Frühstücksflocken benannt. Sie habe mich sogar als Ersatzmann vorgeschlagen, doch die Leute von Kerr-Raum hätten entgegnet, Sic habe mir gegenüber einige Vorteile. Ich fragte, worin diese Vorteile beständen. Sie antwortete mir, psychische Stabilität sei vermutlich einer davon. Außerdem habe Sic bereits einen »Sprung ins kalte Wasser« absolviert. Marena wollte mir keine weiteren Einzelheiten darüber verraten, was geplant war.
Sie sagte, sie würde mit Taro darüber sprechen und ich solle entweder zurück an die Arbeit gehen oder ein paar Vicos einwerfen und mich beruhigen. Um 20.40 Uhr sprachen wir noch einmal
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