2012 – Das Ende aller Zeiten

denn während des Trainings waren wir darauf fixiert gewesen, meinen Kopf in 9-Reißzahn-Kolibris Schädel zu bekommen, der, wie Sie sich vielleicht erinnern, der »Ahau« und »K’alom’te« der herrschenden Familie der Ozelots war. Aber die Dinge lagen hier ein bisschen komplizierter. »9-Reißzahn-Kolibri« war bloß ein Name, einer der vielen offenbarten und nicht offenbarten Namen des K’alom’te, und dieser Name hatte nicht das Geringste mit seinem Totem oder Uay zu tun, genauso wie jemand namens April Fisch nicht im April geboren oder ein Fisch zu sein braucht. Also bedeutete der Kolibri an dem Kopfputz nicht, dass 2-Juwelenbesetzter-Schädel etwas mit diesen Vögeln zu tun hatte – aber bildlich gesprochen hieß es vielleicht, dass die Leute hier Vanille mochten. Und in diesem Moment regte sich eine vage Ahnung, dass Vanilleschoten für das Harpyien-Haus wichtig waren, vielleicht als Hauptquelle ihrer nouveau richesse .
    Unter der Orchidee ging es mit der Stirn des Mannes steil abwärts bis zu einem kleinen hölzernen Steg, der die Stirn mit der Geiernase in eine Linie brachte. Von den Mundwinkeln zogen sich blau tätowierte Punkte spiralig zu den geschwärzten Lidern. Trotz seiner faltigen, sonnenverbrannten Haut sah er nicht alt aus – aber er war alt, das wusste ich durch Schakal. Auf jeden Fall hatte er seine zweite Geburt hinter sich, das heißt, er war über zweiundfünfzig, und ich meinte zu wissen, dass er noch ein bisschen älter war.
    Er bewegte die Augen und schaute mich an. Die Leute behaupten immer wieder, dass jemand, der viele Menschen umgebracht hat, eine gewisse »Leere im Blick« hat. Ich glaube das nicht. Die blutrünstigsten Katzen der Welt haben die ausdrucksstärksten Augen überhaupt. Dochdie Augen von 2-Juwelenbesetzter-Schädel besaßen eine gewisse Kälte und drückten ständige Geringschätzung aus, wie sie wahrscheinlich die Schweine in den Augen der Schlachter sehen, und ich bekam das Gefühl, im Scheinwerferstrahl eines Polizei- oder Fernsehhubschraubers zu stehen. Automatisch wandten sich meine Augen ab und schauten blinzelnd auf die Schalen auf dem Boden. Seltsamerweise bewegten sie sich scharrend, und ich brauchte ein paar Sekunden, bis ich begriffen hatte, dass es Gürteltiere waren, beide mit Azuritzapfen im Panzer und mit einem Band, das durch ein Ohr gezogen war, am Boden festgebunden.
    »Wer ist Micky Maus?«, fragte 2-Juwelenbesetzter-Schädel.
    Mein Herz setzte einen Schlag aus.
    Er sprach Englisch.



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    Er bekam nicht alle Vokale richtig hin, darum klang es mehr wie »Mi-ki Ma-os«. Aber ich hatte mich nicht verhört. Oder doch? Nein, auf keinen Fall. Mir wurde zuerst leicht im Kopf und dann bleischwer.
    »Ich unter dir antworte dir über mir«, sagte ich automatisch. Hatte ich das auf Ch’olan oder Englisch gesagt? Ch’olan, glaube ich … verdammt, ich werde verrückt. Na gut. Ich rede Englisch. Also los.
    »Micky Maus ist kein lebendiges Wesen«, sagte ich also auf Englisch. »Er ist eine … Zeichnung.«
    Schweigen.
    »Wer ist der Ahau Wolt Ditzni?«
    Was?, überlegte ich. Oh. Okay.
    »Der Ahau Disney starb zwei K’atunob vor meiner Zeit«, sagte ich. »Er war die Stimme von Micky Maus.« Es war nicht leicht, mit ihm zu reden, ohne einen Ehrentitel zu benutzen, deshalb fügte ich hinzu: »Sage ich unter dir.«
    »Ist Micky Maus sein Uay?«
    »Nein, Micky ist nur ein Bild. Er ist ein … eine Puppe. Ein b’axäl .«
    »Ist Jed- kas dein Uay?«, fragte 2-Juwelenbesetzter-Schädel. Kaum zu glauben, dass eine so hohe, fast quiekige Stimme so gebieterisch klingen kann. Aber gebieterisch war sogar noch zu milde ausgedrückt. »Oder ist es Micky?«
    Das läuft gar nicht gut, dachte ich. Das Suffix kas , das er meinem Namen angehängt hatte, bedeutete ungefähr so viel wie »du stehst dreizehn Stufen unter mir«, also am tiefstmöglichen Punkt der gesellschaftlichen Pyramide. Nach dieser Deklination sprach ein Ahau mit einem Rundkopf, mit einem Barbaren also, der nicht mal ein richtiger feindlicher Maya war, sondern lediglich eine Unperson.
    »Nein«, antwortete ich. »Weder noch.«
    Es gab eine Pause. Wie kann das eigentlich angehen, überlegte ich. Er kann doch nicht gelernt haben …
    Moment mal. Ich weiß wie.
    Er muss drin gewesen sein.
    2-Juwelenbesetzter-Schädel war mit mir zusammen in der Königsnische gewesen, oben auf der mul . Zumindest eine Zeit lang – ein paar von den ungefähr acht Minuten, die der Transfer gedauert hat. Und als mein