2012 – Das Ende aller Zeiten
nicht sehen, was dahinterlag.
Rings um die Kreislinie drängten sich die Geblüte. Ich zählte einunddreißig – mein neuer Kopf konnte nicht so schnell zählen wie mein Jedkopf, aber ich glaube, es ging trotzdem ziemlich schnell –, und dann schätzte ich sie auf vierzig, denn hier machte man gern alles in Vielfachen von zwanzig. Jeder hielt einen Speer, der ein bisschen länger war als er selbst. Wie alle Speere dieser Art bestanden sie aus zwei Teilen, einem langen Schaft und einer Spitze mit sechzig Zentimeter langer Zwinge, die so locker darauf saß, dass sie sich beim Aufprall löste, aber statt einer Feuersteinklinge steckte ein stumpfer Holzzapfen darin. Die Speere waren mit Fell umwickelt, Jaguarfell bei den Ozelots und Affenfell bei den anderen Sippen. Die Geblüte trugen Hirschlederröcke und breite Baumwollschärpen mit zwei zusätzlichen Speerspitzen auf dem Rücken. Sie hatten genau wie ich Sandalen mit Gummisohlen, und ihre Haut war für die nächtliche Jagd mit rot pigmentiertem Hundefett eingerieben. Die Haare trugen sie zu straffen Zöpfen geflochten, die am Wirbel ansetzten und über den Kopf zurück zur Stirn gelegt waren. Mehr als die Hälfte von ihnen gehörte zu der modisch korpulenten Sorte. Wie in Indien zeigte man es gern, wenn man sich Nahrung leisten konnte. Schakals Erinnerungen kamen jetzt ziemlich gut ins Spiel, denn trotz der verwirrenden Muster auf den Röcken und der Körperbemalung konnte ich die Geblüte unterscheiden und den fünf Hohen Häusern zuordnen. Die Geblüte des Herrscherhauses der Ozelots trugen türkise Flecke an den Waden, und die Geblüte des Vampirfledermaus-Hauses, die eng mit den Ozelots verwandt waren, deren Schutzherr aber den Nordwesten als Himmelsrichtung hatte, zeigten am ganzen Bein entlang schwarze und orangefarbene senkrechte Streifen. Das Haus Itz’un , das Schnupfer-Haus aus dem Nordwesten, war überall weiß gestreift, und das Haus Ara, das den Südwesten repräsentierte und der stärkste Unterstützer der Harpyien war, trug gelbe Flecke. Auch Geblüte des Harpyien-Hauses waren zugegen, rot und schwarz gestreift, und sie machten sich mit den anderen bereit, dehnten ihre Beinmuskeln und schwenkten zischend die Speere. Großartig, dachte ich, selbst meine eigene Familie tritt an, um mich abzumurksen. Ich brachte es nicht über mich, ihnen in die Augen zu sehen, doch allein anhand ihrer Stimmen wusste ich, dass Schakal ein paar von ihnen kannte. Da war eine traditionelle, spaßige Prahlerei im Gange, und während sie großspurig umherstolzierten und sich ihrer Beliebtheit erfreuten, taxierten sie mich mit übertrieben fachmännischem Getue, als wäre ich ein Rennpferd auf der Koppel. »Ymiltik ub’aj b’ak ij koh’ob, impek’ya’la« , hörte ich jemanden sagen. »Ich behalte nur das Geweih und die Zähne, den Rest bekommen meine Hunde.« Das gab großes Gelächter. Glückliche Leute, dachte ich. Das Salz der Erde.
»Nein, ich kriege das Geweih, und du kannst den Penis haben, und meine Hunde bekommen den Rest«, sagte ein anderer. Großartig, dachte ich, ich bin wieder in der Junior-High. Gegen meinen Willen sah ich die Reihe der Gesichter entlang und kramte nach einer ätzenden Retourkutsche. Der Junge, der den Witz aufgebracht hatte, einer der Schnupfer, bückte sich zu mir herab, blies die Backen auf und schielte mich an, wodurch er fast wie Harpo Marx’ Gookie aussah. Irgendwie brachte mich das zum Lachen wie alle anderen auch. Es schien die lustigste Sache der Welt zu sein. Natürlich war es blöd, dabei auf der Empfängerseite zu stehen; andererseits spielte es keine Rolle mehr. Es bedeutete nichts anderes, als dass man am Leben war. Ich zog zum Spaß ein Schmollgesicht und erntete noch lautere Lacher. Wen kümmert es, auf welcher Seite man steht? Die Welt kann ein bisschen mehr Lachen gebrauchen, oder nicht? Ich drehte mich umund blickte suchend den Kreis entlang. Ein paar Gesichter kamen mir wie alte Freunde vor. Einige lächelten mich beifällig an. Ich lächelte zurück. Ich sah sogar Mitgefühl. Aber es war kein Mitgefühl, das irgendwie verhindern würde, was sie mir gleich antun wollten, denn für sich selbst hätten sie keine andere Behandlung erbeten.
Die Präparatoren stellten mich hin und stützten mich am Geweih. Der Oberpräparator nahm eine Muschelklinge und kniete sich vor mich. Ich erlebte einen Augenblick verfrühter Angst – ich dachte, er wollte mich bereits jetzt häuten –, doch er ritzte mich nur leicht mit der
Weitere Kostenlose Bücher