2012 – Das Ende aller Zeiten
nennen.
Sie nahm eine Grandeza mit Tze‘-Baumsamen hervor und verstreute sie über das Spielbrett.
An ihrem Stil war etwas Interesseloses, und ich bekam das Gefühl, dass sie nicht vorhatte, mir mehr als die kürzest mögliche Sitzung zuzugestehen. Vier Läufer jagten meinen Alter-Ego-Stein in eine Beinahe-Sackgasse. Nach kurzer Berechnung nannte sie Wak Ahau, Waxac Muan oder 6 Oberherr, 8 Juwelenbesetzte Eule – also einhundertzweiunddreißig Sonnen von heute – als das wahrscheinlichste Datum. Es klang vernünftig, zumindest, was den Tod dieses Körpers betraf. In Anbetracht der erwarteten Ausbreitung meiner Hirntumore lagen nur ungefähr einhundertzehn Tage geistiger Klarheit vor mir. Vorher gab es im aktuellen Tun noch andere mögliche Todestage, besonders Kan Muluk, Wuklahun Xul, also 4 Regen, 17 Ende, und Hun Eb, Mih Mol, oder anderes gesagt, 1 Fegen, 0 Sammlung. Meinetwegen, dachte ich. Ich schnalzte und nahm damit die Diagnose an.
Bislang war ich enttäuscht. Das war nichts Außergewöhnliches. Ich stellte meine zweite Frage: Wo würden meine Nachkommen – das Wort bedeutete nicht ausschließlich persönliche Nachkommen, von denen ich keine hatte, sondern Nachkommen meiner Familie, also von 2 JS – an 9 Nacht, 1 Dunkles Wasser im ersten Tun des fünfzehnten K‘atun des elften B‘ak‘tuns sein? Und wie viele von ihnen gäbe es?
Diese Anfrage war ziemlich gängig, abgesehen von der überbrückten Zeitspanne. Das Datum war im Jahre 1522 n. Chr., 313285 Tage in der Zukunft. Es handelte sich um eines der Katastrophendaten aus dem Codex.
Koh ließ sich nichts anmerken. Sie nahm fünf Läufer und verteilte ihre Maiskörner über das Brett, zählte sie rasch und sagte mir, dass am betreffenden Tag ungefähr dreihundert Nachfahren der Harpyien die Schädelbündel der Gründer im »flusslosen Norden« wieder begraben würden. Das dürfte Yucatán sein, dachte ich. Die anderen, etwa zweitausend Köpfe stark, wären »in den Dschungeln verstreut, in den Wäldern, die die Juwelenstädte bedecken werden«.
Gut, dachte ich, das war wohl doch schon ein bisschen beeindruckender. Okay. Zeit für die große Frage.
»Welche Sonne wird die letzte der Stadt der Schneiden sein?«, fragte ich.
Sie schwieg, wie so oft. Ich saß vor ihr. Endlich antwortete sie.
»Kinder« – sie meinte Klienten – »haben mich vierhundert Mal danach gefragt«, sagte Koh. Im Laufe des letzten K‘atuns hätten einige unternehmungslustige Addierer tatsächlich verschiedene Daten für das Ende der Stadt angesetzt. Diese Daten seien verstrichen, die betreffenden Addierer geflohen oder getötet worden. Dennoch, sagte sie, gebe es – zumindest unter den besten Sonnenaddierern und deren elitären Klienten – ein allgemeines stillschweigendes Gefühl, dass das Ende bald bevorstände. Angeblich hätten sogar die herrschenden Häuser insgeheim diese Tatsache akzeptiert und bereiteten ihre Sippen auf den Auszug vor.
Nun, ich bin sicher, dass ich es irgendwo schon erwähnt habe, aber ich wusste nicht, wie lange die Stadt bestehen würde. Vielleicht wusste es niemand. Die archäologisch ermittelten Daten sind ungenau. Der Codex Norenbergae erwähnt den Fall von Teotihuacán mit keinem Wort, zumindest nicht auf den Seiten, die wir hatten. Und Koh zufolge war das Datum noch mit keinen bekannten Spiel ermittelt worden.
»Aber du hast kein Datum bestimmt?«, fragte ich.
»Diese Schrift ist zu dicht vor unseren Augen«, sagte sie.
Was sie meinte – nun, Taro nennt es Ereignis-Konus-Problem. Dasheißt, dass es eigentlich unmöglich ist, etwas vorherzusehen, was man beeinflussen konnte. Dadurch wird man durch die Nähe geblendet. Man nennt es das Problem des beteiligten Beobachters. La Rochefoucauld nannte es »l‘aveuglerie de l‘oeil qui ne voit pas lui-meme«, das heißt, die Blindheit des Auges, das sich nicht selbst sieht, und Stephen King bezeichnete es als Dead Zone, den toten Bereich. Man sollte meinen, es wäre leichter, etwas vorherzusagen, das nicht mehr fern ist, und schwerer, wenn es noch in weiter Zukunft liegt. Normalerweise trifft das auch zu, bis zu einem bestimmten Punkt jedenfalls. Aber jenseits dieses Punktes stimmt es nie. Vergleichbar ist vielleicht, dass es immer am schwersten ist, den Rat anzunehmen, den man sich selbst gibt.
»Aber kannst du für mich bis zu dieser Sonne spielen?«, fragte ich.
»Diese Sonne lebt in Rauch«, sagte Koh.
Verdammt, dachte ich, sie will mich abwürgen. Verdammt, man sollte doch meinen,
Weitere Kostenlose Bücher