2012 – Das Ende aller Zeiten
Dunkelheit. Das Licht stammte von einem Kohlebecken mit frischer Glut, die durch den Wandschirm leuchtete, der wohl aus Federn bestand. Auf der anderen Seite der Wand war noch ein Raum. Und die Wand war eigentlich keine Wand, dachte ich, nur ein metallisch schmimmernder Stoffschirm wie eine Theaterkulisse. Woraus die metallisch glänzende Schuppen auch immer bestanden, sie wirkten wie ein Zweiwegspiegel. Und jemand saß dahinter, nur drei Arme von mir entfernt. Ich konnte zuerst nur die Umrisse ausmachen, dann immer mehr. Es war eine junge Frau in der gleichen Aufmachung der gleichen Haltung wie die alte Dame.
Sie weiß Bescheid, dachte ich. Du weißt, dass ich dich sehen kann.
Entspann dich, dachte ich. Ich atmete tief durch, lockerte mein Rückgrat, und atmete wieder aus. Die Frau hatte sich nicht bewegt. Jetzt vermochte ich Einzelheiten auszumachen. Ihre rechte Hand war offenbar schwarz bemalt; ich konnte sie nicht gut erkennen. Ihre linke Hand jedoch war unbemalt, und ich konzentrierte mich darauf. Sie hatte sieben Finger. Der kleinste lief spitz zu und hatte kein Gelenk, wie der Fangarm einer Seeanemone; er war nicht größer als eine Gewehrkugel vom Kaliber .22 Long Rifle. Ich schaute auf ihr Gesicht. Die obere Hälfte war zum größten Teil bleich, die untere schwarz. Die Grenze verlief unter ihrem linken Auge hinweg über die Oberlippe und die rechte Wange zum rechten Kieferwinkel.
(50)
»Welche anderen Namen benutzt du neben mir?«, fragte die Frau. Sie hatte die gleiche Stimme wie die alte Frau.
Gib ihr lieber etwas, dachte ich.
»Mein Hüftballname war Schakal«, antwortete ich.
»Und wer sind deine anderen Väter, anderen Mütter, anderen älteren Brüder, anderen jüngeren Brüder?« Zuerst war ihre Stimme ein präseniles Krächzen, doch als sie zum Wort no‘ob, »Mütter«, gekommen war, wurde die Stimme dunkler und glatter, als alterte sie rückwärts.
Ich nannte ihr den Namen von Schakals biologischem Vater.
»Und woher kommst du?« Nun schien sie ihre normale Stimmlage erreicht zu haben, eine Altstimme, die tiefer war als die Stimme einer durchschnittlichen Maya-Frau. Was ist denn das, fragte ich mich. Als die alte Dame sprach, muss die echte Frau Koh hinter ihr gebauchrednert haben. Warum? Und woher hat die alte Dame gewusst, wann sie ihre Lippen bewegen soll?, überlegte ich. Irgendein Zeichen. Eine Schnur, ein Stab im Boden vielleicht. Na, egal.
»Aus Ix«, sagte ich.
»Aber davor?«
»Aus Bolocac«, sagte ich. So hieß Schakals Dorf.
»Und wo warst du, ehe du nach Bolocac kamst?«, fragte Koh. Sie sprach in einem Singsang, und ich hatte das Gefühl, dass sie mich damit ein wenig in Trance versetzte.
»In Yananekan«, antwortete ich, ohne nachzudenken. Yananekan war der Name der Gegend von Cahabón aus dem 21. Jahrhundert, wo ich viel später als Jed aufgewachsen war. Hölle.
»Und danach, aber vor Bolocac?«
»Ich bin dunkel«, sagte ich. Das bedeutete so viel wie: »Ich verstehe nicht.«
»Du musst Yananekan verlassen haben, ehe du Geblüt wurdest«, sagte sie.
Ich schnalzte bejahend. Ich merkte, wie sie mich musterte. Vielleicht sollte ich dieser Frau nicht mit Blödsinn kommen. Wie alle guten Sonnenaddierer spürte sie eine Lüge noch durch eine Bleiwand.
»Und welche Sonne beschien deinen Aufbruch?«
Ich nannte ihr ein plausibles Datum.
»Und wie nannten die Menschen dich damals?«
»Sie nannten mich Schakal.«
»Aber das war nicht dein erster Name?«
Ich erwiderte, doch, das wäre er, und bemerkte dann, dass ich gezögert hatte. Zu spät, dachte ich. Das war so gut wie ein Ja.
Sie schwieg. Ich sah sie klammheimlich wieder an. Als ich den Porträtkopf von ihr sah, den 2-Juwelenbesetzter-Schädel besaß, hatte ich geglaubt, das Muster auf ihrer Haut sei nur ihre typische Gesichtsbemalung. Nun sah es aus, als befinde es sich unter der Haut, wie eine Tätowierung. Eigentlich, dachte ich, sieht sie gar nicht übel aus, wenn man sich überlegt, was für ein Scheiß hier abgeht. Sah man von der Scheckigkeit ab, hatte sie eine schöne Haut, ein ebenmäßiges Gesicht und wirkte sehr feminin, auf mitfühlende oder mütterliche Weise – eher sogar auf vor-mütterliche Weise, als könnte sie eines Tages gut zu ihren Kindern sein, aber heute noch nicht. Ich senkte rasch wieder die Augen und starrte auf die einzelne Geranienblüte vor mir auf der Matte.
»Und du neben mir, weshalb reist du?«, fragte sie.
»Weil 2-Juwelenbesetzter-Schädel seine Familie schützen
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