2012 – Das Ende aller Zeiten
hinter der Tür herrschte Stille. Dann hörte ich ein leises Pfeifen wie von einer Carolinataube. Koh erhob sich, kam zum Wandschirm, schlüpfte hindurch, beugte sich über mich – ich hatte überhaupt keine Gelegenheit, an meinen Platz zurückzuweichen – und packte mich beim Haar, und zwar nicht beim Pferdeschwanz, obwohl das auch nicht recht gewesen wäre, sondern bei der Stirnlocke. Ungestüm küsste sie mich, stieß mir ihre glatte Zunge in den Mund und schlängelte damit um die meine, rieb mir damit über die Wangen, den Gaumen, zwischen die zugespitzten Zähne und die frische Wunde und die alten Narben auf den Innenseiten meiner Lippen, runter bis zu den Mandeln, einfach überallhin …
(52)
Sie schmeckte anders als alles, was ich je gekostet hatte, vielleicht ein wenig nach dem melancholischen Geschmack von uni , rohem Seeigel, aber dunkler, älter und metallischer. Wow, ein leidenschaftlicher Kuss war so ziemlich das Letzte, was ich erwartet hätte. Amerikanische Ureinwohner haben wirklich keine Kultur des Küssens entwickelt.
Fast hätte ich angenommen, dass sie nun von mir erwarte, ihr das Gewand herunterzureißen und weiterzumachen. Ich überlegte gerade, ob sich sie irgendwo liebkosen sollte, als sie mein Haar losließ, sich mit einem feuchten Schmatzen von mir löste und sich wieder an ihren Platz auf der anderen Seite des Herddeckels setzte. Die Zwergin, die offenbar zurückgekehrt war, stellte eine Korbladung Töpfe und Krüge ab und gab Koh eine gefüllte Tasse. Koh trank, als wollte sie sich den Geschmack nach mir aus dem Mund spülen. Ich setzte mich wieder auf meine Matte und versuchte, meinen Atem zu zügeln. Koh machte den Eindruck, als wäre nichts Erwähnenswertes geschehen. Seltsamerweise kam ich mir vor, als wäre ich Marena untreu, obwohl sie und ich wahrscheinlich gar nicht zusammen waren. Beruhig dich, Blödmann, dachte ich, du träumst. Diese Frauen haben es alle auf große Fische abgesehen. Sie interessieren sich nicht für einen mageren kleinen … Ist ja auch egal.
Mannomann. In meinem Mund wuchs ein tauber Nachgeschmack heran, als hätte ich Fugu verspeist. Ich wankte leicht und setzte mich wieder gerade hin.
So, darum also ging es, dachte ich. Sie hat mir eine Kostprobe Dope gegeben. Ein Manöver auf rein beruflicher Ebene. Jetzt beruhig dich erst mal.
Die Wespenkolonie produzierte Substanz X – vielleicht wurden sie mit etwas Bestimmten gefüttert und raffinierten es in ihrem Verdauungstrakt – und das war des Alten Pöklers Staub. Dieses Prozess beherrschten die Seidenweberinnen. Und wenn man ihn mit dem Staub des Steuermanns kombinierte – also der topolytischen Droge, der Substanz Y, die Koh von dem Puma-Boten erhalten hatte –, dann erhielt man eine Wirkung, die das Spiel mit neun Steinen erst ermöglichte.
Na, verdammt. Was für eine Enttäuschung. 2 JS hatte geglaubt, sie hätte einen Vorrat von dem Zeug. Stattdessen musste sie ein Rezept ausfüllen und es auf einmal unter Katzenaufsicht einnehmen. Und wie sie sich zuvor ausgedrückt hatte, war selbst das etwas Ungewöhnliches, das sie längst nicht für jeden einfach auf Verlangen taten, aber sie hatte eine kleine Dosis erhalten können, indem sie eine alte Schuld einforderte. Scheiße und noch mal Scheiße.
Hmm.
Die Zwergin hatte neue Körbchen, Töpfe und kleine Schalen gebracht und baute sie südlich des Herddeckels auf, als wäre es schon wieder Zeit für den Fünfuhrtee. Sie öffnete eines der Körbchen, holte eine weitere Zigarre heraus, entzündete sie an der Myrtenfackel und reichte sie Koh.
Fertig?, fragte mich Koh mit einer Geste.
Ich setzte mich gerade. Fertig, signalisierte ich. Koh zog tief an der Zigarre und blies wieder Rauch in die vier Himmelsrichtungen. Sie sprach:
»Mein Atem ist rot, mein Atem ist weiß,
Mein Atem ist golden, mein Atem ist weiß, mein Atem.
Nun borge ich den Atem dieser Sonne,
Nun werde ich den der morgigen borgen,
Nun werde ich den Atem der Sonnen borgen,
Die auf die morgige folgen.«
Wenn man sich verwurzelt, fühlt man sich stets wie im Herzen des Universums. Diesmal jedoch brauchte ich mir gar nicht weiszumachen, dass ich daran glaubte. Ich war mir dessen bereits sicher. Der Zug der Schwerkraft fühlte sich stärker an denn je, doch ich schien mich von ihr zu ernähren und einen ganzen Berg von Energie aufzubauen. Ich meinte jede einzelne Schicht aus den verschiedenen Materialien unter mir zu spüren: Baumwolle, Binsenmatte, Lehm, Erdreich, Stein,
Weitere Kostenlose Bücher