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2012 – Das Ende aller Zeiten

2012 – Das Ende aller Zeiten

Titel: 2012 – Das Ende aller Zeiten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brian D’Amato
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hätte klassifizieren können. Auf jeden Fall handelte es sich um eine Höhlen bewohnende Abart, einen augenlosen Albino, ohne Pigmente und an den Weichteilen fast durchscheinend, aber braun an den Kanten seiner Chitinplatten wie leicht angesengte Stellen an den Spitzen eines Baisers. Er war etwa dreißig Zentimeter lang, was ausreichte, um einen auf ihn aufmerksam zu machen. Als er lange genug stillhielt, konnte ich erkennen, dass er einundzwanzig Beinpaare hatte, aber keine Augen besaß, nur vier Stümpfe, wo die Augen gewesen wären. Die Reißzähne – oder besser Giftklauen – waren lang und leicht gekrümmt wie Kavalleriesäbel. Die Setae auf den Fühlern – die Härchen, die Bewegungen erfassten – waren erheblich vergrößert wie die Stacheln auf einem Weinkaktus, einem Ocotillo. Er sah aus wie ein Reißverschluss, in dem sich das Universum verfangen hatte.
    Schneller, als ich es mitbekam, schoss Kohs linke Hand – die mit den sieben Fingern – vor und packte das Tier mit den langen, blau gefärbten Nägeln ihres Daumens und des sechsten Fingers an seiner zweiten Rückenplatte, der gleich hinter dem Kopf. Sie setzte es mitten in eine kleine Schale und hielt es dort mit dem Daumen fest. Obwohles – oder sie, wie Koh es nannte – obwohl sie von dem Rauch betäubt war, hob sie das Hinterteil und kratzte mit den umherschlagenden Beinen über Kohs Handgelenk.
    »Sie ist ein K’atun und sieben Tunob alt«, erklärte mir Koh. »Sie ist sehr weise.«
    Koh nahm den Daumen weg.
    Ich verschob das Gewicht auf meinen unterschlagenen Beinen. So etwas hatte ich noch nie gesehen oder davon auch nur gehört. Wirklich, ich hatte gedacht, dass Koh einfach ihre Steine und Saatkörner auspackte und zu spielen anfing. Na, uno nunca sabe.
    Koh trommelte mit den Fingerspitzen neben dem Hundertfüßer; offenbar sprach sie zu ihm (oder ihr) in seiner eigenen Vibrationssprache. Das Tier schien eine gespaltete Sensille zu heben und zuzuhören. Schließlich wurde es ein wenig lockerer und starrte blicklos zu mir hoch. Ich hatte den Eindruck, dass der Hundertfüßer uns schmecken konnte, und fröstelte.
    Er rutschte auf Kohs Handteller zweimal umher und rollte sich zu einer Spirale zusammen. Koh sprach mit leiser Stimme in einer anderen Sprache aus Zischlauten und geschlossenen Vokalen zu ihm. Ich lehnte mich zu weit vor, und das Biest fuhr herum und schnappte mit seinen Kiefern zweimal nach der Wärme meines Gesichts.
    »Dein Rückgrat muss sich nach Nordwesten bewegen«, sagte Koh. Sie meinte damit, ich solle mich etwas zurücksetzen. Ich gehorchte. Fast hatte ich das Gefühl, dass sie mein kleines Drogenproblem belächele. Wahrscheinlich hatte ich Augen wie ein Zwölfjähriger nach dem ersten Joint. Sehr komisch.
    Koh setzte ihre Hand an der äußersten südöstlichen Ecke des Brettes ab. Der Hundertfüßer glitt wie Quecksilber, das eine Schräge hinunterfließt, von ihrer Hand und ergriff Besitz von der Ecke. Er orientierte sich, dann ließ er sich nieder. Er schien das Spielbrett zu kennen.
    »Vergib mir, leite mich, glänzender Gast«, sagte Koh. Mit der Schnelligkeit eines Hütchenspielers bedeckte sie den Hundertfüßer mit der zweiten Kakaotasse. Ich fühlte mich unangenehm an den Zeitvertreib meiner Stiefbrüder in Utah erinnert, in alten FernsehkartonsGladiatorenkämpfe zwischen Regenbogenrennechsen und Laborratten zu veranstalten. Koh legte die linke Hand auf die Tasse über dem Hundertfüßer und die dunkle auf die Tasse über dem Äffchen.
    »Mein Atem ist schwarz, mein Atem ist gelb«, sagte Koh.
    »Mein Atem ist rot, mein Atem ist weiß, mein Atem
    Ist jetzt blau-grün …«
    Sie hob beide Tassen.
    Nichts rührte sich. Wochen, Monate und Jahre beobachtete ich den Hundertfüßer. Endlich rührte er die Fühler, hob sie und klopfte damit auf den Boden. Er hielt inne. Er spürt etwas, dachte ich. Ist das Spielbrett so eine Art Seismograph? Spürte der Hundertfüßer Ebbe und Flut der Lavagezeiten drei Kilometer unter uns? Maß er die Anziehung des Mondes?
    Die beiden Tiere standen sich so weit entfernt gegenüber, wie es auf dem Brett nur möglich war, und wegen der stehenden Steine in der Mitte konnten sie einander nicht sehen. Aber langsam bewegte der Hundertfüßer die Fühler, orientierte sich und machte drei vorsichtige Schritte nach rechts, lotrecht zum Äffchen, und betastete die Oberfläche des roten Quadranten. So, wie er in den Mulden Fuß fasste, ließ darauf schließen, dass er das Brett schon kannte.

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