2012 – Das Ende aller Zeiten
die goldgrünen Federn. Die Schar der Harpyien-, Gila- und Rassler-Geblüte auf der Plattform teilte sich. Koh schritt ohne Zögern zwischen ihnen hindurch wie Johanna von Orleans durch das Nordtor von Reims. Die alten Pumas, die auf der Spitze der Pyramide ausgeharrt hatten, wandten den Kopf, um sie anzusehen. Sie machte neun Schritte. Sie bewegte sich wie eine Eidechse, wohlüberlegt, lebhaft und scheinbar emotionslos. Zwei extralange Quetzalschwanzfedern wedelten als verzögerte Duplikation ihrer Bewegungen hinter ihr her, wie Fühler, die in die Vergangenheit tasteten. Kohs Zwergin, die Pinguinfrau – die übrigens, nebenbei bemerkt, angeblich ein Seemöwen-Uay hatte und durch ein Gewitter daran gehindert worden war, ihre menschliche Gestalt ganz abzustreifen und zu ihrem Tier-Ich zu werden – nahm vor ihr Aufstellung, hielt ihre kleinen Klauen einen Moment lang hoch, ließ sie sinken, blickte nach links und rechts und begann zu sprechen.
»Alle im Südosten, Nordwesten, Nordosten, Südwesten, gebt nun Acht«, sprach sie in heiserem Singsang. »Alle oben, unten und in der Mitte, gebt Acht. Alle vor uns, alle nach uns und alle jetzt gebt Acht, gebt Acht.«
Stille herrschte auf der Plattform. Dann folgte ein Geräusch, das im Panikgeschrei unten fast nicht zu hören war, doch die Geblüte nebenmir nahmen es mit ihren geübten Ohren wahr, und dann hörte auch ich es, und Koh ebenfalls.
Einer der Pumas weit links in der Reihe hatte seine Speerschleuder nicht abgegeben – er musste sie in seiner Manta versteckt haben – und legte nun einen kurzen Giftpfeil in die Kerbe, als wollte er ihn auf sie schleudern. Oder er wollte erreichen, dass einer von uns einen Speer auf ihn schleuderte, um damit einen Kampf auszulösen. Das war immer das Problem mit diesen Leuten. Sie ließen sich lieber töten als gefangen nehmen. Jedenfalls machten die Geblüte rechts und links von mir eine rasche Bewegung und zielten plötzlich mit ihren Speeren auf ihn. Doch Koh zuckte die Achseln – was einem Einhalt gebietenden Finger entsprach –, und sie warfen nicht.
Das Puma-Geblüt hielt ebenfalls inne. Koh stand einen Moment lang da, ohne ihn anzublicken oder etwas zu sagen, und forderte ihn heraus, seinen Pfeil zu verschießen.
Ich weiß nicht, ob sie ängstlich war, aber sie wusste, dass man verloren hatte, wenn man Angst zeigte. Jedenfalls rührte sie sich nicht.
Fünf Schläge vergingen, dann zehn. Schließlich … nun, er ließ den Pfeil zwar nicht sinken, aber er entspannte sich oder veränderte seine Körperhaltung so weit, dass man sehen konnte: Er würde den Pfeil nicht mehr schleudern.
Koh sprach. Ihre Stimme war tief und kalt und klang wie die eines Herolds. Man erkannte sie als ihre, doch sie hörte sich völlig anders an als bisher. Koh benutzte eine alte priesterliche Form des Teotihuacánischen, und ich verstand nur jedes dritte Wort. Aber später wurde mir gedolmetscht:
»Ihr auf einer Höhe mit uns,
Der Keulen und Speere entkleidet,
Pumas, auf eure Zitadelle gezwungen,
Nunmehr übermannt und umzingelt,
Die ihr in Reichweite unserer Speere
Eure Selbstmordklingen bereithaltet,
Unser Ahau, unser sonnenverschlingender Aal,
Unser jadegefiederter Sternenrassler
Spricht durch die Ahau-na Koh
Der Seidenweberinnen,
Koh von den Auras.
Auf eine Höhe mit ihm kommt sie,
Mit dem Puma zu sprechen,
Mit dem Kriegsherrn.«
Eine Zeit lang geschah nichts. Die Pumas scharrten mit den Füßen.
Quälend langsam trat dann einer der Alten vor, indem er den linken Fuß jeweils an den rechten heranzog, was heißen sollte, er sei noch nicht ihr Gefangener und brauche sich deshalb nicht zu beeilen. Er trug eine orangefarbene Vollmaske und einen riesigen, gebauschten, bodenlangen roten Federumhang. Das wird der Symposiarch der Synode sein, schloss ich.
»Ich auf einer Höhe mit Ahau-na Koh könnte ihn rufen oder auch nicht«, sagte er.
Koh gab keine Antwort. Die Pinguinfrau, die vielleicht ein wenig hyperaktiv war, trat von einem Bein aufs andere. Nach weiteren zehn Schlägen gab der Alte hinter seinem Rücken ein Zeichen, und die Schar der Pumas teilte sich und rückte von den Türen des Teocallis weg.
Die vier Türen führten direkt zu vier langen Tempelcellae, einer dreiteiligen Himmelshöhle, die angeblich der unterirdischen genau darunter exakt entsprach. Von meinem Platz aus konnte ich nicht viel von ihnen sehen, wohl aber, dass die linke Kammer, die nördlichste, mit Perlmutt ausgekleidet war. Die rechte Kammer
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