2012 – Das Ende aller Zeiten
keinen zweiten Blick darauf werfen.
»Das ist richtig«, sagte Marena. »Michael sagte, es sei eine Kopie, die sieben- bis achthundert Jahre später angefertigt wurde. Aber immer noch … äh, vor dem Kontakt.«
»Hat Michael Weiner gesagt, dass diese Frau Koh eindeutig aus der Maya-Zone stammte? Oder war sie aus Teotihuacán?«
»Das weiß ich nicht«, antwortete sie. »Er hat es nicht gesagt. Sprechen Sie das wirklich so aus?«
»Was? O ja«, sagte ich. »Tei-oh-tie- hwha -cahn. Nahuatl ist eine paroxytonische – «
»Verdammt, da habe ich ein ganzes Spiel darüber gemacht und es die ganze Zeit falsch ausgesprochen.«
»Darüber würde ich mir keine Gedanken machen«, entgegnete ich. »Niemand weiß viel über Teotihuacán. Auch nicht, wie es richtig hieß.«
»Wirklich?«
»Ja. Es ist eine ziemlich geheimnisvolle Stätte.« Das stimmte. »Niemand weiß, welche Sprache dort gesprochen wurde, wie die Erbauer sich nannten oder wer ihre Nachfahren waren. Aber das eigentliche Rätsel ist, wieso ihre Stadt sich länger halten konnte als jede andere auf dem amerikanischen Kontinent und als Zentrum Mesoamerikas eine achthundert Jahre lange Blütezeit erlebte. Und selbst nach ihrer Zerstörung scheint der Ort eine Macht behalten zu haben. Siebenhundert Jahre später, unter den Azteken, erhob sich dort die größte Stadt der westlichen Hemisphäre und heute, fünfhundert Jahre danach, ist es wieder der Fall.«
»Was fällt Ihnen dann an der Seite auf?«, fragte Marena.
»Nun, davon abgesehen sehen die Daten ziemlich normal aus«, sagte ich. »Aber einige Verben sind schwierig. Ich wette, viele von ihnen sind mehr oder weniger einmalige Abarten. Ich bräuchte Zeit, um es mit meinem Wörterbuch durchzugehen.«
»Berühren Sie den Schirm, und Sie sehen Michael Weiners Übersetzung«, sagte sie.
Ich tat wie geheißen. Die Linien der Maya-Schrift grauten aus, und englische Anmerkungen erschienen in Blau darüber. Wie es aussah, hatte Weiner beinahe neunzig Prozent des Textes entziffern können.
»Hmm«, machte ich. Auf den ersten Blick fand ich keine Schnitzer. Ich hatte Michael Weiner immer für ein bisschen blöd gehalten, aber vielleicht war er es gar nicht. Außerdem kannte ich ihn nicht. Ich hatte ihn nur ein paar Mal in Geheimnisvolle Völker gesehen. Er war ein großer Neuseeländer mit Bassstimme und Bart, der irgendwie in die Archäologie der Neuen Welt geraten war, und der Discovery Channel versuchte ihn als Steve Irwins Gegenstück unter den Mesoamerikaspezialisten darzustellen. Einmal war er über den Marktplatz von Teotihuacán marschiert und hatte gesagt: »Das war der Rodeo Drive des Alten Mexiko.« Also wirklich, ein toller Satz, Kumpel. Weißt du, was du bist? Du bist der Benny Hill der Archäologie.
Trotzdem, dachte ich, auf dieser Seite hat er viel herausbekommen. Alle bekannten Maya-Texte sind frustrierend knapp gehalten. Hier lag die erzählerischste hieroglyphische Maya-Schrift vor, die ich je gesehen hatte, und sie war noch immer recht karg. Die erste Wendung, b’olon tan , bedeutete »neuntes Ziel«, was darauf hindeutete, dass es auf Seiten, die ich nicht sah, bereits acht Ziele oder Gefangennahmen gegeben hatte. Folglich war das Spiel statt mit einem mit neun verschiedenen Läufern gespielt worden – und man konnte »Läufer« durchaus auch als »Opfer« oder sogar »Ball« übersetzen. Demnach war das Spiel 260 9 Mal – also 1411670956537760000000000 Mal – schwerer zu spielen als die Version mit einem Stein, mit der Taro und ich gearbeitet hatten. Jedenfalls sah es aus, als wäre jede Gefangennahme eines Läufers an einer anderen Kreuzstelle auf dem Spielbrett geschehen, und jede dieser Kreuzstellen hing mit einem bestimmten Datum auf dem Maya-Kalender zusammen. Auf der gegenüberliegenden Seite standen unter jedem dieser Daten – die Weiner in dem Overlay mit der Späten Klassik in Zusammenhang setzte – eine Kolonne von Hieroglyphen, die besagten, was am betreffenden Datum geschehen war oder geschehen würde. Viele dieser Geschehnisse waren Himmelsereignisse, aber am unteren Ende der Kolonnen traten die ersten historischen Begebenheiten auf. Die erste Hieroglyphe neben dem zwölften Ziel begann mit 3 Zahn, 15 Juwelengeier, 10.14.3.9.12, ein Datum, das Weiner korrekt in den 30. August 1109 umgewandelt hatte. In seinen Anmerkungen hatte er geschrieben: Chichén aufgegeben? Wie Ihnen jeder Reiseführer sagen wird, war die Chichén Itzá zu dieser Zeit das größte
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