2012 - Folge 7 - Ein Grab im Dschungel
sattsehen konnte.
Sie waren zwei, drei Stunden lang – die Zeit schien ihr hier draußen aufgehoben zu sein – über Wasser- und Grasflächen gefahren und hatten dabei kaum den Grund berührt. Allerlei Vögel hatten die Besucher teils furchtlos beäugt oder in ganzen Schwärmen Reißaus genommen, wenn sich das Propeller-Flachboot brummend wie eine Monsterhornisse näherte. Immer wieder verschwanden links und rechts Tiere platschend und glucksend im Schilf und Wasser. Und hier und da lagen Alligatoren – »Nein, das da ist ein Spitzkrokodil«, hatte Abigail ihn einmal belehrt – auf Uferbänken und Inseln, wie ausgestopft, das Glitzern in ihren schwarzen Augen die einzige Regung.
Jetzt lenkte Oquendo das Boot in ein Waldgebiet, dessen Bäume direkt aus dem Gewässer wuchsen. Ihre Zweige hingen wie die von Trauerweiden bis auf die schwarzgrüne Wasseroberfläche herab und wehten träge in der sachten Strömung wie das Haar von Ertrunkenen. Eine Schneise führte wie ein verwinkelter Canyon mit grünen Wänden durch den Sumpfwald, stellenweise auch tunnelartig überdacht, wo die Zweige von links und rechts so weit aufeinander zuwuchsen, dass sie sich ineinander verflochten.
Tom empfand Ehrfurcht. Das war eine eigene Welt, und er fühlte sich nur als Gast darin, nicht wie ein Mensch, der das selbst erklärte Recht hatte, überall auf der Erde sein zu dürfen. Seine Gedanken verselbständigten sich und versuchten das Wesen dieser Natur zu erkunden, gerade so, als sei es genau das – ein eigenständiges, fremdes Wesen, dem sie einerseits nicht zu nahe zu kommen wagten, das sie andererseits aber doch kennenlernen wollten, weil seine schiere Fremdartigkeit einen unwiderstehlichen Reiz ausübte.
Fast wie in Trance ließ Tom den Blick durchs Dickicht schweifen, das beiderseits der natürlichen Fahrrinne rasch so dicht wurde, dass es wie kompaktes Grün aussah.
»Schön, nicht?«, sagte Abigail neben ihm. Der Fahrtwind spielte mit ihrem Haar, dessen Spitzen Tom immer wieder kitzelnd über die Wange strichen.
»Ja, wunderschön.«
»Es riecht nach Regen«, meldete sich Red Oquendo hinter ihnen zu Wort, als fühlte er sich bemüßigt, ihrer relaxten Stimmung einen Dämpfer aufzusetzen. »Könnte sogar ein Gewitter geben.« Er schaute nach oben, wo die Bäume einen mit grünen Wolken verhangenen, niedrigen Himmel bildeten, durch den sein Blick – im Gegensatz zu Toms – allerdings hindurchzudringen schien.
Der Archäologe winkte ab. »Kein Problem. Mit meinem sonnigen Gemüt gleiche ich jedes Unwetter aus.« Er zwinkerte Abigail zu.
Sie musterte ihn, den Ellbogen auf der Rückenlehne, das Kinn auf die Hand gestützt. Ihr Mund lächelte, aber in ihren Augen war etwas Anderes, Nachdenkliches. »Sie sind ein richtiger Peter Pan, hm?«, meinte sie.
»Wie darf ich das verstehen?«
»Ein Kindskopf.«
»Och, das würde ich so nicht sagen.«
»Na gut, dann eben ein ewiger Junge.«
Das hört sich besser an, wollte er sagen, aber die Worte blieben irgendwo auf halber Strecke zwischen Hirn und Lippen liegen, überrollt von einem Gedanken, der Tom seit seiner Abreise aus New Jersey immer wieder gekommen war. Eine Frage, die mit der Spannung einherging, ob er den Jungbrunnen oder zumindest eine konkrete Spur dorthin finden würde, und die er immer wieder beiseitegeschoben hatte wie ein unliebsames Anhängsel.
Was würde er eigentlich tun , wenn er diesen legendären Quell der ewigen Jugend tatsächlich fand?
Everglades-Nationalpark, Florida, vor 16 Jahren
Es war schon merkwürdig … Obgleich es so lange her war, dass es anderen Menschen unendlich lange vorgekommen wäre, träumte Isleif auch heute noch von dem Unglück. Und obwohl er selbst im Traum wusste, dass es nur ein Traum war, hatte es nie von seinem Schrecken verloren. Selbst die Angst war noch genau die gleiche wie damals, als es wirklich geschehen war. Als die See alle anderen gefressen und nur ihn ausgespuckt hatte, als wollte sie ihn nicht haben.
Seinerzeit hatte Isleif sich, obwohl er natürlich den Tod der restlichen Mannschaft und vor allem seines Vaters betrauerte, doch glücklich geschätzt, den Schiffsbruch überlebt zu haben. Heute konnte er längst nicht mehr zählen, wie oft er sich im Laufe der Zeit gewünscht hatte, mit ihnen ertrunken zu sein. Schon lange hatte er nicht mehr das Gefühl, an jenem Tag gerettet worden zu sein. Nein, er musste Ägir, den Gott des Meeres, erzürnt haben, und der hatte ihn zur Strafe mit einem Fluch belegt.
Mit
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