2012 - Schatten der Verdammnis
aufzurichten.
Überall in der Stadt erheben sich gewaltige Pfeiler. Im Zentrum einer rechteckigen, offenen Grube steht eine gut zwei Meter hohe Felsskulptur, die Viracocha darstellt. Sein länglicher Schädel ist ebenso kenntlich wie die vorstehende Stirn, die dünne, gerade Nase und der bärtige Kiefer. Arme und Hände sind gefaltet. Erwähnenswert ist ein weiteres Element: An beiden Seiten des Gewandes des Weisen befinden sich zwei Schlangen, die an verwandte Darstellungen in ganz Mittelamerika erinnern.
Der Bau, der die größten archäologischen Kontroversen ausgelöst hat, ist die Kalasasaya, ein tief liegender Tempel im Zentrum der Stadt. Er ist von gewaltigen Mauern umgeben und zeichnet sich durch dreieinhalb Meter hohe aufrechte Steinblöcke aus. Pierre war der Meinung, bei der Kalasasaya habe es sich um eine Festung gehandelt, doch Maria widersprach ihm. Sie hatte erkannt, dass die Anordnung der Monolithen der ihrer Gegenstücke in Stonehenge ähnelte.
Wie üblich stellte es sich heraus, dass Maria Recht hatte. Die Kalasasaya ist keine Festung, sondern ein Observatorium, womöglich das älteste der Welt.
Was aber hatte all dies zu bedeuten?
Fünf Jahre, nachdem wir Cambridge verlassen hatten, war es meinen Kollegen und mir gelungen, erdrückende Beweise dafür zu finden, dass eine überlegene Gruppe von
Menschen mit europäischen Zügen die Entwicklung der mittelamerikanischen und südamerikanischen Ureinwohner beeinflusst hatte. Diese bärtigen Männer mit ihren genetisch deformierten Schädeln hatten fantastische Bauwerke entworfen und deren Bau geleitet. Der Zweck dieser Bauten aber war uns noch immer ein Rätsel.
Maria war davon überzeugt, dass der Bauplan der Kalasasaya dem von Stonehenge zu sehr ähnelte, als dass es sich um einen Zufall handeln könnte. Sie glaubte, wir müssten unbedingt der Spur dieses >europäischen< Volkes und seiner uralten Weisheit in östlicher Richtung folgen, auch ohne zu wissen, wohin uns das führen würde.
Pierre Borgia war nicht glücklich über diesen Einfall. Die zwei Jahre in Nazca hatten sein Bedürfnis nach archäologischer Forschung vollauf befriedigt, und außerdem drängte ihn seine wohlhabende Familie, in die Staaten zurückzukehren, um eine politische Laufbahn einzuschlagen. Problematisch daran war, dass er sich in Maria verliebt hatte. Die beiden hatten sogar vor, im Frühjahr zu heiraten.
Trotz ihrer Zuneigung zu Pierre war Maria aber nicht bereit, ihre Suche nach der Lösung der Maya-Prophezeiung aufzugeben. Sie bestand darauf, dass wir der Spur der >Bärtigen< nach Stonehenge folgten.
Die Vorstellung, nach England zurückzukehren, war mehr als verlockend. Ich buchte also unseren Flug, und wir begaben uns auf die nächste Etappe unserer Reise. Auf ihr, das wusste ich, würde unser Dreigespann für immer zerbrechen.
Auszug aus dem Tagebuch von Prof. Julius Gabriel
Vgl. Katalog 1972-1975, Seite 6-412
Fotojournal Diskette 4, Datei: NAZCA, Foto 109
10
26. Oktober 2012 Sanibel Island, Florida
Sonntag, 5.20 Uhr »Aufwachen, Schatz!«
Gähnend öffnet Dominique die Augen. »Was ist denn los?«
»Iz sagt, du sollst zu ihm runter ins Labor kommen. SOSUS hat was gefunden.«
Aufgeregt strampelt Dominique die Decke weg und folgt Edith die rückwärtige Treppe hinab ins Akustiklabor.
Iz sitzt mit seinem Kopfhörer am SOSUS-Terminal. Er hat ihr den Rücken zugewandt. Dominique hört, dass das Gerät Daten aufzeichnet.
Er dreht sich auf seinem Stuhl herum und schaut sie an. Sie sieht, dass er nur einen Bademantel und Schlappen anhat. Hinter dem Bügel des Kopfhörers steht ihm sein schütteres graues Haar wild vom Kopf ab. Seine ernste Miene bringt sie zum Lachen.
»Ich hab das Gerät gestern Abend überprüft, bevor ich ins Bett gegangen bin. Das einzig Ungewöhnliche, was SOSUS entdeckt hatte, war eine so genannte >tote Zone<, ein Gebiet ohne jede Meeresfauna und -flora. An und für
sich ist das nicht ungewöhnlich. Im Golf von Mexiko entstehen jeden Sommer tote Zonen, wenn die durch einströmende Düngemittel verursachte Planktonblüte den Sauerstoffanteil im Wasser verringert. Aber solche Zonen treten normalerweise vor der Küste von Texas und Louisiana auf und niemals in so tiefem Gewässer. Wie auch immer, ich hab das Gerät so umprogrammiert, dass es sich nun auf dieses Gebiet konzentriert, und den Suchmodus aktiviert. Vor einer Viertelstunde hat es Alarm gegeben.« Iz nimmt den Kopfhörer ab und reicht ihn Dominique. »Hör dir das
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