2016 - Die Einsamen der Zeit
überkreuzten Beinen niederließ. Der energetisch überschirmte Rundbalkon war angenehm temperiert. Vereinzelte Wasserschauer sprühten in das gelbliche Flirren des Schirmfelds und verdampften zu feinem Nebel. Ein durchsichtiger Schwebezug aus zusammengekoppelten Tropfensphären sank lautlos von einer seitlich gelegenen Felsenterrasse in die Tiefe. Über die Prallfeldbrüstung des Balkons tasteten die tiefvioletten Trieblinge von HydroKletterpflanzen. Ihre Knospen schnupperten vorsichtig in die ungewohnte, trockene Wärme.
Es war ein schöner, fast wolkenloser Tag in Pur Straviente, der Stadt, in der das Lachen geboren wurde und gerade das machte La-Pharoke noch verzweifelter.
All diese Schönheit würde es nicht mehr lange geben. Pur Straviente war dem Untergang geweiht wegen eines bösartigen alten Mannes und der ignoranten Jasager und Duckmäuser, die ihn umgaben.
Das Kronenfunkgerät in seinem Multifunktionsgürtel teilte ihm mit, daß ihn Xho Ma Terre, der Kronefen von Pyrminox, dringend zu sprechen wünsche. La-Pharoke lehnte ab.
Kurz danach baute sich Ru Ri-Garriotts Hologramm vor seinen Augen auf. Sie wirkte gefaßt und fragte an, wo er bliebe. Es gebe gerade jetzt viel zu besprechen. Ob sie vielleicht zu ihm hinauskommen solle? „Bitte nicht", bat La-Pharoke. „Ich brauche ein wenig Zeit. Ich muß allein sein."
Ru Ri-Garriott musterte ihn aus ihren bernsteinfarbenen Augen und nickte ernst. „Vergiß es nie", sagte sie. „Du bist der Mann, der den Morgen macht. Wir brauchen dich, La-Pharoke."
Ihr Hologramm erlosch.
La-Pharoke stand auf, ging an die Brüstung und drang in das elastische Prallfeld ein, bis es ihm Widerstand leistete.
Einen halben Kilometer tiefer stürzte das Wasser des Pur auf einen Felsvorsprung und wurde in weißen Fontänen in die Luft geschleudert, bevor es seinen spektakulären Weg ins Meer fortsetzte.
Nach unten, dachte La-Pharoke. Der Weg des Wassers. Der Weg der Felsenaale. Ist es auch mein Weg?
Er fühlte eine grenzenlose Enttäuschung und Leere. Und er hatte nicht das geringste Bedürfnis, diese Leere wieder aufzufüllen. Er wollte keinen falschen Trost. Er brauchte keinen Zuspruch. Vielleicht brauchte er nicht einmal mehr Berührungen.
Und schon gar nicht brauchte La-Pharoke die gutgemeinten Aufmunterungen von Freunden. Was gut gemeint war, war immer gelogen.
Schluß mit den Lügen, dachte La-Pharoke und sah in den tosenden Abgrund. Wir werden alle untergehen. Muß ich so lange warten?
Es würde ihm keine Probleme bereiten, die Sicherungsautomatik des Prallfelds zu überbrücken. Dann könnte er ungehindert an den Rand des Balkons treten. Dann könnte er aus dieser Welt hinausgehen. Hinunter.
*
Der Schock kam wie ein Blitz, der seine Nerven durchzuckte.
Ein weißer Tornado, der durch sein Gehirn fegte.
La-Pharokes Brust begann zu glühen. Seine Lungen bliesen sich auf. Sein Herz krampfte sich zusammen, und jede einzelne Zelle seines Körpers schien in einem Hitzesturm zu verbrennen.
La-Pharoke taumelte vom Balkonrand zurück, griff sich an den Hals, holte mit zitternden Händen Angusaraths Schrumpfseele unter dem Chiton hervor und wollte sie weit von sich schleudern.
Aber es war schon vorüber.
Die Schrumpfseele, die eben noch unerträglich heiß gewesen war, fühlte sich wieder normal an. Wie die Knolle einer Brotwurzel lag sie in seiner Hand, glatt und kühl, während die Glassteinkette, an der sie befestigt war, von seinen Fingern baumelte.
Hatte er sich alles nur eingebildet? Diese Gluthitze, die Angusaraths Schrumpfseele plötzlich entwickelt hatte. Diesen grellen Schmerz. Das Gefühl, als ob sich der nur noch sieben Zentimeter große Totenpilz in ihn hineinbrennen wollte.
La-Pharokes Kehle, sein Gaumen und seine Zunge fühlten sich wie aus Sand an. Er verspürte unbändigen Durst. Und großen Hunger...
*
Später konnte La-Pharoke nie erklären, wie er auf den Gedanken gekommen war, Angusaraths Schrumpfseele zu essen. Aber er war fest davon überzeugt, daß der Impuls nicht von ihm selbst ausgegangen war. Der Totenpilz hatte gewollt, daß er ihn aß.
Mehr noch: La-Pharoke verstand den Hitzeschock, der ihn davon abgehalten hatte, sich in die Tiefe zu stürzen, als Angusaraths letzten Gruß. Jetzt erst, 13 Segaf nach seinem Tod, hatte ihn der alte Pilzer wirklich ganz verlassen. Und er wollte, daß La-Pharoke seine Seele in sich aufnahm...
*
La-Pharoke aß langsam und mit Andacht.
Er kaute jeden Bissen, bis seine Zähne
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