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2.02 Der fluesternde Riese

2.02 Der fluesternde Riese

Titel: 2.02 Der fluesternde Riese Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joachim Masannek
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denen unser mit unserem Blut unterschriebener Wilde-Kerle-Schwur stand:
    „Wer die Wilden Kerle verlässt, ist ein Verräter, und er wird dafür strengstens bestraft. Es sei denn, er ist ein Weichei und tritt freiwillig in einen Bastelverein für Weihnachtsschmuck ein.“
    Ich nahm die 14 verstaubten, wie Schatzkarten gerollten Verträge, warf sie in einen Eimer aus Blech und steckte sie alle mit einem Streichholz in Brand.
    „Halt!“, schrie Nerv auf, und Markus, der aufsprang, packte mich wütend an beiden Schultern und stieß mich gegen die Wand.
    „Hast du nicht schon genug angerichtet!“ Er hob seine Faust. Er wollte mich schlagen, und Raban, der vergeblich versuchte, das Feuer zu löschen, verlangte:
    „Ja, schlag schon! Schlag ihn. Schlag endlich zu!“
    Doch Markus erstarrte. Er starrte mich an, und als er die Faust langsam sinken ließ, flüsterte er leise: „Nein. Marlon hat recht. Sie sind nichts mehr wert.“
    Er drehte sich zu den anderen um.
    „Der Schwur wurde schon von zu vielen gebrochen.“
    „Rocce und Annika, Fabi und Felix, Joschka und Jojo und Deniz“, zählte ich auf. „Und wir, die noch hier sind, sind auch nicht mehr wild.“
    Ich ging zu Leon und kniete mich vor ihn.
    „Los, zeig es uns, Leon!“, forderte ich.
    Da öffnete er seine Jacke und zeigte uns allen das Loch, das auf der Brust seines Trikots klaffte.
    „Unser Herz ist verbrannt!“, flüsterte ich leise und traurig und drehte mich zu den anderen um.
    Sie hatten jetzt alle ihre Jacken geöffnet, und bei allen fehlte der Wilde Kerl. Bei allen klaffte ein Loch im Trikot. Sie hatten es sich herausgerissen, -geschnitten, -gefetzt, -gebrannt und -gestochen. Das Zeichen, für das sie bisher alle bereit gewesen waren zu sterben, existierte nicht mehr. Doch sie lebten noch immer. Sie waren wie Zombies, und genauso dunkel und leer wie die Löcher auf ihren Hemden waren die Augen, mit denen mich meine Freunde anstarrten.

    Doch auch auf meinem Trikot fehlte das Logo. Auch ich hatte es – auch wenn ich nicht wusste, wo, wann und wie – aus meiner Brust gerissen.
    „Vergesst es!“, hörte ich mich sagen, und ich spürte die Anstrengung, die das verlangte. Ich presste jedes Wort heraus, als wäre es eine stachelige Kugel, die mir die Zunge aufreißen würde.
    „Vergesst es! Es ist nichts mehr wert. Deshalb habt ihr es alle aus euren Trikots gerissen!“
    Nerv stöhnte vor Schmerz: Und ich verstand seine Trauer. Er hatte Jahre darum gekämpft, dass er zu uns gehören durfte. Und jetzt, kaum einen Tag, nachdem er in Donnerschlag zum Wilden Kerl geworden war, war alles schon wieder aus und vorbei.
    „Nein, das ist nicht wahr!“ Er flehte mich an.
    Aber ich sagte: „Doch!“ Auch wenn sich alles in mir dagegen sträubte. „Es ist nichts mehr wert. Wir haben uns verloren. Wir sind nicht mehr wir. Kommt, seid ganz ehrlich. Wer von euch glaubt noch so an sich und an uns, wie er es getan hat, als wir vor dem Spiel gegen die Bayern und Rocce die Wilden Kerle e. W. gegründet haben?“ 22
    Ich schaute sie an und ertrug ihr Schweigen. Ich stöhnte vor Schmerz, wenn sie meinem Blick auswichen, um stattdessen auf ihre Füße zu starren. Nur Nerv sah mich an. Traurig. Verzweifelt.
    „Aber das war doch nicht alles. Marlon, sag es schon, bitte. Es ist nicht vorbei. Es geht doch noch weiter.“
    Da plumpste ein Lächeln aus meinen Augen. Es fiel auf die Wangen, und als es die Mundwinkel zu kitzeln begann, sagte ich glücklich: „Ja, du hast recht!“
    Dann genoss ich das Rascheln der Jacken und Trikots. Es hörte sich an, als würden die Herzen meiner Freunde vor Erleichterung seufzen. Sie hoben die Köpfe und sahen das Lächeln, auch wenn sie es noch nicht glauben wollten.
    „Ja, Nerv hat recht!“, wiederholte ich glücklich. „Es geht wirklich noch weiter.“
    Ich nahm den Globus und ging zum Amboss. Ich stellte die geborstene Kugel auf das Holzfass, und als mich alle entgeistert anschauten, lief ich zur Ostwand der großen Halle und stieß den Fensterladen auf.
    „Könnt ihr euch an den Globus erinnern, den Maxi seinem Vater durch das Wohnzimmerfenster vor den Kopf geschossen hat?“ Ich grinste sie an.
    „Und ob wir das können!“, zischte der kleine Nerv, der gar nicht dabei gewesen war. Doch jeder von uns hatte ihm die Geschichte mindestens ein Dutzend Mal erzählt.
    „Tja, und dieser Globus ist heute zurückgekehrt. Fragt mich nicht wie.“ Ich fuhr mir ratlos durch die Haare. „Entweder hab ich ihn so stark geträumt, dass

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