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2.02 Der fluesternde Riese

2.02 Der fluesternde Riese

Titel: 2.02 Der fluesternde Riese Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joachim Masannek
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soll das? Warum machen die das?“, rief Nerv, der aufgebracht hinter mir fuhr.
    „Ich hab keine Ahnung. Doch wir brauchen sie nicht. Ich kenn einen tausendmal besseren Ort!“
    „Besser als eine Eisdiele, Marlon?“ Nerv schnaubte und strahlte, als er Julis Beiwagenfahrrad neben mich lenkte. Und ich lachte ihn an. Ich lachte so, wie man sich eine Träne wegwischt, und trat noch fester in die Pedale.
    Wir rasten zum Fluss. Aber nicht zur Magischen Furt . Wir rasten dorthin, wo das Wasser aus den Felswänden schoss. Dort lag ein Kanu unter Büschen versteckt. Ich zog es heraus, gab Nerv eines der Paddel und fuhr mit ihm flussaufwärts durch die Stromschnellen in die felsige Schlucht.
    „Ist das besser als Eis?“, rief der ängstliche Nerv.
    „Viel besser!“, rief ich und lenkte das Boot um die nächste Biegung. Dort staute sich der Fluss zu einem fast kreisrunden See, und darin lag eine kleine Insel. Sie bestand nur aus einem riesigen Baum und seinen moosbewachsenen, beindicken Wurzeln.
    „Was hab ich gesagt?“ Ich half Nerv aus dem Boot, und der sah sich staunend um.
    „Ist das dein Geheimversteck?“
    „So kann man es nennen.“
    Ich zog eine Leine, griff in die Strickleiter, die vom Baum herabfiel, und kletterte daran zur Krone empor. Dort hingen zwei Hängematten nebeneinander, und als wir endlich in ihnen lagen, spürten wir die Böen des Winds wie ganz sanfte Wellen. Wir tanzten im Takt der Blätter und Äste, und ich fragte Nerv:
    „Willst du immer noch Eis essen?“ Ich grinste ihn an.
    „Eis essen, was?“ Er grinste zurück. „Woher kennst du das hier, Marlon? Der Baum ist fantastisch.“ Er streckte und reckte sich, als wollte er so ein Teil der Baumkrone werden.
    „Vanessa hat den Baum entdeckt und mir dann gezeigt“, sagte ich leise, und Nerv stutzte: „Oh.“

    Er sah mich plötzlich ganz traurig an.
    „Ja“, sagte ich. „Und sie hat ihm einen Namen gegeben: der Flüsternde Riese . Das ist der Baum aus ihrer Lieblingsgeschichte. Ein magischer Baum. In dem haben einmal Elben gewohnt. Richtige Elben. Nicht die aus den Märchen.“ 24
    Ich versuchte zu lächeln.
    „Doch jetzt ist sie weg. Sie hat dich verlassen“, sagte Nerv mitfühlend, und ich konnte nur nicken.
    „Ja“, nickte auch Nerv. „Und sie hatte ’nen Grund. ’Nen richtigen Grund.“
    „Ja!“, gab ich ihm recht. „’Nen verflucht richtigen Grund.“
    Ich spürte die Trauer. Doch ich wollte sie nicht. Ich wischte sie mir wie Rotz von der Nase und malte mir mit dem Handrücken mein Marlonlächeln zurück ins Gesicht.
    „Sie hatte ’nen Grund“, sagte ich trotzig und lächelnd. „Doch wir werden ihr tausend andere geben, dass sie zu uns zurückkommen muss.“
    Ich zog das Notizbuch aus der Jackentasche, in das ich alles hineinzeichnete und schrieb, was mir etwas bedeutete, und als ich es aufschlug, fand ich auf einer der ersten Seiten die alten Trikots. Die Trikots, die ich für uns entworfen hatte, als es ums Spiel gegen die Bayern ging.
    „Wie schon gesagt: Das ist ein magischer Baum.“
    Ich riss eine Seite für Nerv heraus, gab ihm einen Stift und verschränkte die Arme hinter dem Kopf.
    „Das hier ist der Flüsternde Riese . Die Festung der Elben, und wenn uns an so einem Ort nichts einfällt, was die Wilden Kerle zum Leben erweckt und Vanessa zurückbringt, dann laufe ich den Rest meines Lebens als Kurzer herum.“
    „Kurzer?“, stutzte Nerv.
    „Ja.“ Ich schaute ihn an, als wüsste er nicht, dass der Himmel blau ist. „Als Kurzer, verflixt, so nennt man die Zwerge. Und du bist dann nur noch Freddie, der Freak.“ 25
    Ich verzog mein Gesicht zu einer schrägen Grimasse, rollte die Augen und lachte mich tot. „Freddie, der Freak!“, amüsierte ich mich. „Und jetzt fang schon an. Lass die Magie des Baums auf dich wirken.“
    Ich spürte Nervs Blick, der sagte: Du spinnst!
    Doch das war mir egal. Ich fühlte mich so, wie ich mich mit Vanessa gefühlt hatte. Ich war glücklich und lachte. Ich schloss meine Augen, und ich wartete neugierig, aber geduldig, bis uns auch noch der tausendste Grund, mit dem ich sie zurückholen wollte, eingefallen war.

WILLI, HAU AB!
    Am Abend war es so weit. Wir schwangen uns aus den Hängematten, rutschten die Strickleiter hinab, schossen im Kanu die Stromschnellen hinab und jagten auf unseren Rädern zurück in die Stadt.
    Doch bei der Einfahrt in den Fasanengarten erhoben wir uns aus den Sätteln und begannen den Sprint. Wir brauchten den Schwung, um über die von uns

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