2.02 Der fluesternde Riese
mich gestülpt und die packte jedes Geräusch in eine Schicht aus Watte. Mein Kopf war ganz taub, und wenn ich zu den anderen sah, standen die auf dem Bolzplatz wie Rehe. Wie Rehe, auf die ein Auto zugerast kommt. Ein Auto bei Nacht mit gleißenden Scheinwerfern. Wir waren gelähmt, und wenn wir uns irgendwann doch einmal bewegten, hatten wir diesen Tunnelblick. Wir sahen nur unsere eigenen Füße. Die liefen schnurstracks geradeaus. Wir sahen nichts anderes. Da konnten wir schreien, wie wir wollten:
„Gib ab! Hier bin ich! Ich bin ganz frei!“
Wir hörten es nicht. Wir sahen es nicht. Wir waren keine Mannschaft. Wir spielten allein, jeder für sich, und das Einzige, was uns noch zusammenhielt, war dieser Gedanke: Wir wollten nicht scheitern. Wir wollten es Willi und Co. beweisen. Wir wollten erwachsen sein.
Doch dieser Gedanke zerplatzte wie eine Seifenblase, als mein Vater mit seinem Zauberbesenflugbogenball die Vorlage für Hadschis vier zu null gab. Danach blieben wir weiter unter unseren Panzerglasglocken. Doch wir schrien uns jetzt an. Mut und Verzweiflung wurden zu Hass! Keiner von uns traute dem anderen mehr. Jeder war in den Augen des anderen nur ein Versager. Ein Loser!
„Markus, du Dämlack! Spiel den Ball doch zu mir!“, blaffte Raban, der Held. Ich sah den Zorn in seinen Augen und den in den Augen Leons, als der noch lauter verlangte: „Nein. Spiel ihn zu mir!“
Er stieß Raban zur Seite und stürmte dann los. „Ich mach das. Ich zeig’s euch. Ihr Tölpel und Loser!“
Und tatsächlich kam er um Willi herum. Den linken Fuß stemmte er fest auf den Ball, drehte sich einmal im Kreis, schob Willi mit seinem Popo zur Seite, schlupfte unter seinen Armen hindurch und tunnelte dann sogar noch Edgar, der Willi sofort zu Hilfe kam.
Danach stürmte er auf Billi zu, stieg viereinhalb Mal über den Ball, ließ den Ringelsocken-Mann in seinen Fußballschuhen kreiseln, bis seine Strümpfe schwindelig wurden, und rannte dann Richtung Erwachsenentor.
Er fixierte den Kerl, der unser Todfeind war, und der sprang furchtlos auf ihn zu. Maxis Vater verkürzte den Winkel, als wäre er der beste Torwart der Welt. Doch Leon war besser. Er wartete länger, und als der Vater von Maxi sich endlich für rechts entschieden hatte, schlug Leon sofort und rotzfrech einen Haken nach links.
Das Tor war jetzt frei, und er holte schon aus, um die Pille ganz lässig ins Netz zu schieben, da schrie Raban, der Held: „Du verfluchter Idiot! Jetzt gib mir doch den Ball!“
Er schnappte Leon die Kugel vom Fuß und wollte sie über die Linie tragen, da tauchte Hadschi vor ihm auf und schlug den Ball in meinen Rücken und weit auf die linke Seite hinaus.
„Ihr Vollpfosten!“, schrie ich. „Muss ich denn alles alleine machen?!“
Ich sprintete los. Ich sah die Hexe von Bogenhausen. Sie kam aus der Mitte vom Anstoßpunkt und hatte damit den kürzeren Weg. Sie war schneller am Ball. Sie stürmte mit ihm auf unser Tor zu, und dort standen nur noch Maxi vor Nerv. Der Rest unserer Abwehr lag von Hadschi geschlagen im Strafraum des Gegners und sah nur noch zu.
Ja, und wie schon gesagt: Nervs Mutter hatte den kürzeren Weg. Sie war vor mir am Ball. Doch ich war eindeutig der schnellere Läufer. Ich holte sie ein. Ich war ganz nah an ihr dran. Ich klebte an ihr, und als ich dann sah, wie Maxi sie angriff, schrie ich verzweifelt: „Nein! Lass das, du Esel!“
Dann grätschte ich schon. Genauso wie Maxi, und während Nervs Mutter lässig hochsprang, rutschten wir unter ihren Beinen hindurch und rammten uns die Stollen der Fußballschuhe gegenseitig in unsere Bäuche. Wir schrien vor Schmerzen und sahen, wie Nervs Mutter einen Scherenschlag machte. Mit ganz viel Gefühl hob sie den Ball zu Willi hinüber, und der köpfte ihn über den vergeblich in die Luft springenden Nerv ins Tor.
Ich schloss meine Augen. Ich hörte die Flüche. Ich spürte, wie Maxi seine Beine aus meinen zog. Ich fühlte die Kälte. Ich war ganz allein, und als ich mich endlich dazu überwand, als ich endlich die Kraft hatte, meine Augen zu öffnen, sah ich April auf dem Hügel.
Sie schaute mich an, als wär ich gestorben, und fuhr mit ihrem Quad auf und davon.
Dann hörte ich Willi. „Okay, du kannst aufstehen.“ Ich hörte ihn so leise, als stünde er kilometerweit von mir weg. Doch stattdessen trat er jetzt vor mich. Ich sah seine Stiefel. Er hatte sich umgezogen. Er trug wieder Zivil.
„Komm! Marlon, steh auf!“ Er bückte sich langsam und bot mir
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