2030 - Chimaerenblut
daran. Draußen dämmerte es. Sein Gefängnis musste sich in einem Kellergewölbe befinden, vermutete er. Er blickte auf eine Betonmauer, von der schmutziggrauer Putz blätterte. Erneut klopfte er gegen die Wände, untersuchte das Bett, die Tür, rüttelte am Griff und trat unschlüssig gegen das Edelstahlklo. Er hatte nichts übersehen, hier kam er nicht raus.
Mechanisch blickte Leon auf sein Handgelenk. Natürlich, den NanoC hatten sie ihm abgenommen. Nur die leere Geldbörse hatten sie ihm dagelassen. Er zog sie hervor, entnahm die Checkkarte und steckte sie in den rechten Schuh unter die Innensohle. Den Ausweis versteckte er im linken Schuh. Dann setzte er sich wieder auf die Kante der Pritsche und wartete.
Eine junge Frau schloss kurze Zeit später die Tür auf. Ihre Haare waren maisgelb und zu einem strengen Zopf gebunden. Sie hatte volle Lippen, große blaue Augen, Grübchen und war ungeschminkt. Ohne eine Regung im Gesicht hielt sie ihm ein Tablett hin, auf dem sie einen Plastikbecher mit dampfendem Kaffee und ein trockenes Weizenbrötchen balancierte. Hinter ihr stand breitbeinig ein schwarz gekleideter Mann mit eckigem Gesicht und Bürstenhaarschnitt. Die Frau sagte kein Wort. Dafür polterte der Gorilla los. »Ha, wir dich endlich hier haben!«
Leon zuckte zusammen. Er kannte die Stimme. Den russischen Akzent. Den drohend, rollenden Bass. Das war Wladimirs Mörder. »Du Schwein«, brüllte er, sprang auf und riss das Tablett um. Der Bewacher packte ihn am Jackenkragen, schlug ihm auf die Nase und schubste ihn aufs Bett zurück. Dann zog er seine Waffe hervor und zielte auf ihn. »Du dich nicht rühren vom Fleck oder du tot.« Er nickte zu der jungen Frau und zischte etwas auf Russisch, das Leon nicht verstand. Sie rannte hinaus.
»Warum hast du Wladimir ermordet? Er hat mit alldem nicht das Geringste zu tun«, röchelte Leon, während ihm das Blut auf den Kragen tropfte.
Der Schläger schüttelte den Kopf. »Wladimir mir in die Quere gekjommen . Sein Pech.«
Die blonde Frau kam mit einem Putzlappen zurück.
»Und Wilmershofen ? War der euch auch im Weg?«
» Wilmershofen nur blöde. Er seine Schulden nicht bezahlen. Du ihm in die Suppe spucken.« Zur Bekräftigung spie er auf den Boden der putzenden Frau direkt vor die Hände. Sie behielt den Blick gesenkt und wischte weiter. Kurz bevor sie den Raum verließ, griff sie in ihre Kitteltasche und reichte Leon ohne eine Regung im Gesicht ein Papiertuch. Doch Leon sah, wie sehr ihre Hände zitterten.
64
Sonntag, 2. Juni:
Leons Magen drückte vor Leere und Angst. Es war bereits später Vormittag, als sich die Zellentür erneut öffnete. Sofort stand er neben der Pritsche und spürte seinen Herzschlag am Hals pochen.
Der Schläger mit dem Bürstenhaarschnitt erschien im Türrahmen und zog die Oberlippe hoch, so dass seine Zahnlücke oben rechts zu erkennen war.
»Du mit uns kjommen . Der Doktor dich wollen sehen.«
Er packte Leon an der Schulter, drehte ihm die Arme auf den Rücken, legte ihm Handschellen an und schob ihn in den Gang.
Die Frau mit dem maisblonden Haar trug jetzt einen weißen Kittel. Sie senkte den Kopf, schloss die Tür ab und reichte dem Wächter den Schlüssel, ohne ihm in die Augen zu sehen.
Wladimirs Mörder brummte. »Du mein neues Spielzeug. Ich dir zeigen, wer hier das Sagen.«
Er schlug Leon auf die Schulter und schubste ihn vorwärts.
Der Gang war nur fahl beleuchtet. Rechts und links zählte Leon fünf Türen. Hinter einer Tür hörte er ein kehliges Grollen. Dann plötzlich ein heiseres Jaulen...
Kein Mensch?
Ein Tier?
Ein Gemisch an Gerüchen drang in Leons Nase, weckte Erinnerungen an einen nassen Hund, den scharfen Geruch von Wild und Pferd, gemischt mit etwas Undefinierbarem aus Bittermandel und Narkosemittel.
Leons Nackenhaare stellten sich auf. Der grollende Klageruf brannte in seinem Innern.
Sie gingen über eine dunkelgraue Marmortreppe in einen weiteren Gang mit einem abgetretenen dreckigen Teppich mit Blumenmuster. Die ehemals weißen Tapeten waren vergilbt. Eine Tür öffnete sich und Leon wähnte sich in einem ärztlichen Untersuchungszimmer. Rechter Hand sah er eine Liege, in der Mitte des Raumes stand ein mächtiger Mahagoni-Schreibtisch, die Platte war aus rotem Stuckmarmor. An den Wänden standen weiße Metallschränke. Vor dem Fenster, das den Blick auf eine braune, trübe Flussmündung freigab, wartete Kevin und blickte nach draußen.
Leon ballte seine Fäuste und zerrte an den
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