2030 - Chimaerenblut
seiner Urgroßmutter.
»Ich bin kurz vor dem zweiten Weltkrieg geboren. Da darf man ja wohl ans Jenseits denken. Endlich sehe ich meinen lieben Mann wieder und deine Eltern und…«
Kevin hustete.
Sie nahm mit leicht zitternder Hand die nur halb gefüllte Schnabeltasse und hielt sie Marga an die Lippen. »Trink Kindchen.«
»Ich bin kein Kind mehr. Ich bin zwanzig.« Marga verzog schmollend die Unterlippe, doch dann lächelte sie plötzlich zaghaft. »Wenn ich Hände habe, dann finde ich vielleicht Arbeit. O, was ich dann alles machen kann. Ich kann putzen gehen oder einen Pflegejob annehmen. Endlich werde ich Geld verdienen. Die Flügel werden nicht mehr im Weg sein. Diese nutzlosen, grauenvollen Dinger. Ich werde tolle Kleider tragen. Und vielleicht finde ich sogar einen Mann.«
Kevin wischte sich die Hände an der Hose ab und legte die Formulare mit spitzen Fingern in eine durchsichtige Mappe. »Ich bringe die Papiere und das Geld persönlich beim Krankenhaus vorbei. Du wirst sehen, dann geht alles ganz schnell. Vielleicht komme ich schon heute mit einem Termin für dich zurück.«
»Junge, hast du auch nichts Unrechtes getan? Du hast uns noch nicht einmal erzählt, wie du so viel Geld verdienen konntest?« Die alte Frau hielt sich plötzlich mit einer Hand an der Tischkante fest, doch ihr Arm zitterte heftig.
»Ich bin nur mit dem Auto gefahren und habe jemanden hergebracht, den andere suchen. Sonst nichts.«
»Einen Mörder?« Margas Pupillen weiteten sich. »Oder hast du jemandem zur Flucht verholfen?«
»So ungefähr. Die Polizei war hinter ihm her. Aber ein Mörder ist er nicht. Er ist unschuldig. Und nun ist gut.«
Kevin biss die Zähne aufeinander.
Seine Urgroßmutter schüttelte unablässig den Kopf, während sie weiterredete. »Deine Eltern wollten immer in Deutschland statt in Polen leben, und jetzt sind wir in Königsberg.«
»Kaliningrad. Die Stadt ist nicht mehr deutsch, sondern russisch.« Kevin rieb sich das Kinn und bemerkte seine Bartstoppeln. »Ich geh mich mal rasieren.«
»Aber Mirko…«
»Kevin! Mirko war mein Vater.«
»Ja, Mirko, das kannst du doch gleich noch tun.«
»Kevin!«
»Du siehst so blass aus. Du hast ja noch keinen einzigen Bissen gegessen…«
»Ich muss den Umschlag wegbringen.« Er schob den Stuhl mit einem Ruck zurück, ging um den Tisch herum, beugte sich zu seiner Schwester hinunter und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. »Je früher du operiert wirst, umso besser.«
»Du hast wohl die Verantwortung für mich satt. Kann ich verstehen. Hätte ich auch.« Marga lachte gequält.
»Nein, das ist es nicht. Aber mir könnte ja auch mal etwas zustoßen. Und wer hilft dir dann? Je eher du operiert wirst, umso besser. Unsere Prababcia wird immer vergesslicher.«
»Und dann kann ich endlich zu Gott?« Die alte Frau erhob sich, indem sie sich am Tisch abstützte. Sie blickte ihm in die Augen und streichelte über seine Wange, während schon wieder die Tränen nasse Spuren in ihrem runzligen Gesicht hinterließen.
»Ja, das auch.« Er wedelte mit der Mappe durch die Luft. »Ich muss jetzt…«
»Junge, musst du eigentlich wieder nach Warschau oder bleibst du dieses Mal länger?« Sie versuchte ihn am Arm festzuhalten.
Kevin versteifte sich und blickte zur Tür. »Nein, das in Warschau ist zu Ende. Die Fabrik wird geschlossen und der Firmensitz hierher verlegt.« Er drehte sich kurz um und versuchte ein Lächeln. Dann floh er aus der Küche.
Heute morgen, als er Margas sanftes Lachen schon von seinem Bett aus gehört hatte und die zittrige Stimme seiner Urgroßmutter, die ihn zum Frühstück rief, da wusste er, dass alles gut wird. Aber wurde wirklich alles gut? Ließ sich das Glück so einfach kaufen? Plötzlich war er sich nicht mehr sicher. Er fasste in seine Hosentasche und zog einen kleinen Anhänger hervor. Ein Hufeisen. Es hatte im Kofferraum gelegen. Leon musste es bei seiner Entführung verloren haben. Er musste ihm den Glücksbringer zurückgeben. Ja, das war er ihm schuldig.
66
Montag, 3. Juni, vor Sonnenaufgang, Dubai-Gewässer:
Josi blickte zum Boot. Es schien ein Marineboot zu sein. Die Tarnfarbe, der kantig schräge Schnitt – kein Vergleich zu der Yacht der Hildens. Keine Liegestühle, kein Sonnendeck erkennbar. Stattdessen gab es vermutlich jede Menge Kameras und Wachleute. Während Josi näher schwamm, sah sie bereits ein, wie dämlich und aussichtslos das Unterfangen war. Wie sollte sie aufs Schiff kommen? Niemand vergisst eine
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