206 - Unterirdisch
Wasseroberfläche. Seine dolchlangen Zähne blitzten glutrot im letzten Licht der Abendsonne. Unter seinem Rachen tasteten armlange Tentakel nach dem Boot.
Barah reagierte keinen Augenblick zu spät. Mit einem klickenden Geräusch löste sich der Pfeil aus ihrer Armbrust. Er pfiff durch die Luft und bohrte sich in den rechten Kiemenlappen des Raubfisches. Das Tier wirbelte herum.
Barah war es, als würden seine schrägen Augen ihr einen hasserfüllten Blick zuwerfen, bevor sie in den Fluten verschwanden.
Die Jägerin ließ die Armbrust fallen und zog den Dolch.
»Vielleicht lebt der Mochokida noch!«, warnte Arah.
»Dann wird das Pfeilgift ihn aufhalten!« Barah sprang ins Wasser. Sie kraulte auf das Boot zu. Die weinenden Kinder streckten ihre kleinen Arme nach ihr aus. Barah kümmerte sich nicht um sie. Stattdessen holte sie tief Luft und tauchte. Ihre Blicke durchforsteten das Wasser. Aufgewirbelter Sand trübte die Sicht.
Schließlich entdeckte sie Spenza. Sein lebloser Körper hatte sich im Wurzelgeflecht verfangen, zwischen den Unterwasserfelsen. Nur eine Armeslänge vom Boot entfernt.
***
Flackernde Feuer erhellten die Plätze um das Asyl.
Stimmengewirr erfüllte die Luft. Die Menschen hockten auf Bastmatten, aßen, tranken und erzählten wild durcheinander.
Im Moment war der Woormführer Spenza Gesprächsthema.
Männer und Frauen erzählten von seinem Kampf mit dem Mochokida, als ob sie selbst dabei gewesen wären. Er war heute ihr Held, der Retter der Kinder. Auch ihre tapfere Barah wurde erwähnt, die, auf einem Tsebra stehend, vom Ufer aus den Raubfisch erlegt hatte.
Ehrfurcht lag auf den Gesichtern, als davon berichtet wurde, wie die Priesterin den ertrunkenen Spenza wieder zum Leben erweckte: »Sie beugte sich über ihn und hauchte den Atem der Göttin in seinen toten Körper. Da schlug der Woormführer die Augen auf und pries Athikaya!« Nur die Wunde an seinem Bein, die ihm der Mochokida zugefügt hatte, konnte die Priesterin nicht verschwinden lassen. Darum versorgten die Heiler Spenza jetzt im Asyl.
Der lähmende Schock schien verflogen und eine Euphorie der Hoffnung breitete sich aus. Annähernd zweihundert Tote waren zu beklagen, und die meisten der Häuser waren zerstört oder drohten einzustürzen. Aber es hätte schlimmer kommen können. Man würde neue, schönere Häuser bauen und Athikaya bitten, den Toten eine Heimstatt im Götterreich zu geben.
Während die Kinder zwischen den Zelten tollten, herrschte im Heilerzentrum ein ständiges Kommen und Gehen. Die Enkaari kümmerten sich rührend um ihre Verletzten. Unter einem der Bongosibäume umringten Menschen die künftige Priesterin Nyarobys, Senja. Stellvertretend für Carah sprach die junge Frau mit den kupferfarbenen Haaren über die Pläne der Göttin und erzählte von den Geschichten der Alten.
Ein sternenklarer Himmel überspannte das lärmende Treiben der Enkaari. Sowohl das auf den Plätzen um das Asyl, als auch das Treiben im Ratshaus im Westen der Stadt. Ein terrassenförmiger Bau, der dem Beben standgehalten hatte.
Das Jahrhunderte alte Haus war aus fremdartigem Gestein und war in Zeiten der Alten »Hotel« genannt worden. Heute lebten in den kleinen Wohnräumen die Führerinnen Nyarobys und ihr Beraterstab. In der Eingangshalle hatte sich der Bund der Drei mit seinen Beratern versammelt.
Fünfundzwanzig Männer und Frauen saßen um einen runden Tisch aus rotbraunem Bongosiholz. Nur Carah lief unruhig auf und ab. »Wir werden weder nach einem Tempel graben, noch weiter nach den verschütteten Jägerinnen suchen! Als erstes müssen wir uns um die Versorgung der Menschen und die einsturzgefährdeten Häuser kümmern!« Die Stadtführerin kehrte zu ihrem Platz zurück. Sie stützte beide Hände auf den Tisch und sah Barah und Arah eindringlich an.
»Dazu brauchen wir jede Hand und jeden Woorm!«
Barah biss die Zähne zusammen. Widerwillig gab sie Carah Recht. »Die Enkaari kümmern sich zuerst um diejenigen, die eine Chance auf Leben haben«, hörte sie Jesse, die Vertraute der Stadtführerin sagen.
»Es ist Athikaya, die die Chance auf Leben in ihren Händen hält!«, donnerte Arahs Stimme von der anderen Tischseite. Ihre dunklen Augen funkelten Carah wütend an. »Und sie hat die Maelwoorms nur aus einem einzigen Grund den Enkaari gesandt: um ihren Tempel freizulegen! Wer also bist du, sie für deine Zwecke nutzen zu wollen?«
Die Anwesenden schauten ihre Priesterin sprachlos an. Sie waren in der letzten Zeit
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