207 - Weg eines Gottes
uns keine Sorgen machen. Regel eins: Allah steht uns bei und beschützt uns. Regel zwei: Papa hat immer Recht«, erwiderte sie, obwohl sie, im Gegensatz zu ihrem Mann, keineswegs davon überzeugt war. Maurice, der die Medien regelrecht hasste, glaubte tatsächlich, dass sie lediglich ein gigantisches Spektakel aus dem Anflug des Kometen machten.
Sie selbst sah die Lage wesentlich ernster. Und die Harat auch. Kein einziger arbeitete heute auf den Feldern. Die Männer waren in ihren Hütten geblieben. Und die paar Frauen, die vor einer Hütte zusammen saßen, tuschelten nervös, anstatt sich mit dem Trocknen der geernteten Cannabis-Pflanzen zu beschäftigen. Die Ziege und Schafe, die an den Hängen grasten, liefen seit dem Morgen unruhig umher und schrien verstört. Zudem zogen seit einigen Stunden riesige Vogelschwärme in Richtung Süden und verdunkelten immer wieder den tiefblauen Himmel. Ein Schauspiel, das es laut den Harat so noch niemals zuvor gegeben hatte. Sie alle spürten das kommende Unheil.
Maurice konnte solche Zeichen nicht deuten. Er liebte Autos und beurteilte die Umwelt lediglich danach, ob sie sich für seine Rennen nutzen ließ oder nicht. Aber Habib hatte großes Vertrauen in seinen Vater, das sie nicht zerstören wollte. Für ihn war der dreimalige Sieger der Rallye Paris-Dakar ein Held. Außerdem war es besser, dem Kleinen so lange wie möglich Optimismus und Lebensfreude zu erhalten, wenn es tatsächlich zum Schlimmsten kommen sollte.
»Da hat gerade so ein Professor im Radio gesagt, dass die Atomraketen, die wir auf den Monsterfelsen knallen, viel zu schwach sein könnten.«
Poulain lachte. »So, hat er das. Du wirst schon sehen, der Kerl lügt wie gedruckt. Journalisten und Fernsehleute kann man alle in einen Sack stecken und drauf hauen. Es trifft immer den Richtigen.«
Medior warf ihrem Mann einen vorwurfsvollen Blick zu. Ich hatte dich doch gebeten, das nicht mehr zu sagen, hieß das. Sie sagte es nicht laut. Hätte sie ihn laut kritisiert, wäre für Habib eine Welt zusammengebrochen.
Aber würde sie das nicht ohnehin tun, die Welt? Die Chance, dass der morgendliche Gebetsruf des Muezzins den Jüngsten Tag eingeläutet hatte, war ziemlich groß. Medior spürte plötzlich Traurigkeit, Melancholie und den starken Drang zu hemmungslosem Weinen in sich hochsteigen. Nur mühsam unterdrückte sie ihn.
Von den Cannabis-Feldern, die sich unterhalb des Dorfes über steile Hänge zogen, näherte sich ein Reiter auf einem prächtigen, bunt aufgezäumten Rappen. »Abdel!«, jubelte Habib und rannte dem Mann mit dem grünen Turban und dem Gesichtsschleier, der nur seine Augen und einen Teil des narbigen Gesichts freiließ, entgegen. Die Augen des Rifkabylen blitzten, als er Amana die Sporen gab, den Hengst dadurch in leichten Galopp versetzte, sich seitlich hinunterbeugte und Habib zu sich in den Sattel zog.
Der Junge jauchzte. »Ich möchte auch mal so reiten können wie du, Abdel.«
»Ja, das wirst du, keine Sorge. Ich werde es dir beibringen. Es ist Allahs Wille, dass ich das tue«, erwiderte Abdelkrim ibn Ziyad. Der Stammesführer der Harat, der zwei Tage lang weg gewesen war, um einen alten Wahrsager tiefer in den Bergen zu besuchen, zügelte das Pferd direkt vor Poulain. Der zuckte keinen Millimeter zurück. Abdelkrim ließ den Jungen zu Boden gleiten und sprang elegant ab. Er begrüßte den Franzosen mit der zur Stirn geführten Hand. »Ich komme mit einer guten Nachricht, mein Freund. Bouhlarouz hat seinen Geist für mich geöffnet und gesehen, dass wir uns hier keine Sorgen machen müssen. Allah wird uns verschonen, da wir immer gottgefällig gelebt haben.«
Kinder, Frauen und Männer kamen aus den Häusern, um ihren Anführer zu begrüßen. Der kleine Stamm der Harat gehörte zu den Rifkabylen, einer Untergruppe der Berber, und zählte nur wenig mehr als vierhundert Köpfe. Die Harat verdienten sich, wie fast alle Bergbewohner hier, ihren Lebensunterhalt mit dem Anbau von Cannabis beziehungsweise dem Verkauf des daraus gewonnen Rauschgifts. Obwohl offiziell strengstens verboten, duldete es die marokkanische Regierung heimlich.
Abdelkrim ibn Ziyad berief umgehend die Djama’a ein, die Versammlung aller Familienoberhäupter, um ihnen die gute Botschaft zu überbringen. Der Franzose durfte ebenfalls daran teilnehmen. Da die Poulains nun schon drei Monate mit den Harat lebten, galten auch sie als Stammesangehörige mit allen Rechten und Pflichten. Jubel brach unter den Männern aus.
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