207 - Weg eines Gottes
Empfang mehr. Lediglich ein paar einzelne Wortfetzen drangen noch durch das unerträglich laute Rauschen und Knacken. Der Junge hielt sich die Ohren zu und flüchtete zurück zu seinen Eltern.
Gegen fünfzehn Uhr fünfundvierzig Ortszeit konnten die Menschen plötzlich einen leisen Knall wahrnehmen. Kurz darauf bebte die Erde. Leicht nur, aber doch wahrnehmbar. Aus den umliegenden Felsen lösten sich einige Steine und polterten die Hänge hinab. Die Pferde in der Koppel gebärdeten sich wie irr, zweien gelang der Ausbruch. Sie galoppierten einen Steilhang hinunter, überschlugen sich und blieben liegen. Habib schrie erschrocken. Poulain nahm den weinenden Jungen auf den Arm.
Die Lichterscheinungen ebbten langsam wieder ab und machten jetzt einem trüben Grau Platz. Keiner der Harat verließ das Plateau. Alle standen viele Minuten lang wie gelähmt. Selbst die unglückliche Frau verharrte bei ihrem zwischenzeitlich gestorbenen Mann.
Irgendwo erhob sich ein Brausen, das langsam lauter wurde und schließlich den ganzen Himmel erfüllte. Poulain kniff die Augen zusammen. »Hinlegen!«, schrie er und riss Medior und Habib mit zu Boden. Dort presste er sie, auf dem Bauch liegend, fest auf die Felsen. Abdelkrim ibn Ziyad wusste ebenfalls, was kam. Er folgte Poulains Beispiel. Einige Männer und Frauen schafften es ebenfalls noch. Dann fegte die Druckwelle heran. Orkanartige Winde begleiteten sie. Das Brausen wurde zum Brüllen. Die tobenden Gewalten brachten Dreck und Sand mit, schossen kleinere Steine aufs Plateau, erfassten zwei Frauen und wirbelten sie weg. Eine verschwand schrill schreiend über dem Plateaurand. Die andere endete mit vielfach gebrochenem Rückgrat an der seitlichen Felswand.
Dieser Schlag eines gigantischen Hammers, so jedenfalls kam es Poulain vor, dauerte nur wenige Momente. Langsam erhoben sich die Menschen wieder. Viele bluteten, alle husteten sich fast die Seele aus dem Leib. Es wirkte fast wie ein Sakrileg in der jetzt allumfassenden Stille.
Doch schon brandete erster Jubel hoch. »Allah akbar, wir haben es geschafft!«, rief ein Mann. »Der vom Shejtan gesandte Komet hat uns nicht klein gekriegt.« Viele Harat humpelten zurück ins Dorf, um ihre Wunden zu versorgen. Einige stützten sich gegenseitig. Jene, die Angehörige verloren hatten, ließen lautes Wehklagen hören. Das Dorf hatte wegen seiner günstigen Lage im Windschatten so gut wie nichts abbekommen.
Poulain blieb auf dem Plateau, während Medior mit Habib nach unten ging, um zu helfen, wo sie konnte. Mit weit aufgerissenen Augen starrte der Franzose nach Tanger hinüber. Selbst von hier aus konnte er erkennen, dass die Druckwelle reihenweise Häuser zerstört hatte. »Gütiger Gott«, murmelte er immer wieder. »Gütiger Gott.«
***
Doch die Druckwelle war, trotz ihrer verheerenden Wirkung, nur harmloser Vorbote der wirklichen Katastrophe. Plötzlich bebte die Erde erneut. Wesentlich stärker als zuvor. Poulain schrie. Er glaubte den Boden unter den Füßen zu verlieren. Nur mit Mühe hielt er sich aufrecht. Abdelkrim ibn Ziyad, der neben ihm stand, erging es nicht viel besser.
Das Schütteln endete so abrupt, wie es begonnen hatte.
Der Rifkabyle riss die Augen auf. Er zeigte hinaus aufs Meer. »Da! Was ist das?«
Poulain erstarrte. Rechts der Straße von Gibraltar, wo sich das Mittelmeer erstreckte, rollte eine schmutziggraue, von weißer Gischt gekrönte Wand auf die Meerenge zu. Sie war nicht besonders hoch, aber so breit, dass sie sich am Horizont verlor.
»Tsunami«, flüsterte Poulain und spürte es eiskalt den Rücken hinunterlaufen. »Allah sei uns gnädig. Das ist ein Mörder-Tsunami.« Seine Nägel bohrten sich in die Handflächen und hinterließen blutende Wunden. Er bemerkte es nicht einmal. Die auf dem Plateau verbliebenen Harat brüllten so laut, dass es die anderen wieder zurück trieb. Vorausgesetzt, sie konnten noch gehen. Medior und Habib gehörten zu den ersten. Atemlos langten sie oben an.
»Was ist los?«, fragte die total verschwitzte, keuchende Frau. Dann sah sie es selbst. Mit weit geöffnetem Mund stand sie da, die Hände ans Kinn gepresst. Dabei zitterte sie am ganzen Körper. »Allah sei uns gnädig«, flüsterte sie immer wieder.
Je weiter die Wellen in die schmaler werdende Wasserstraße rollten, desto höher türmten sie sich. Als sie die engste Stelle erreichten, ein Nadelöhr von gerade mal vierzehn Kilometern Breite, stieg die Wand explosionsartig empor. Poulain fühlte sich an einen
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