2082 - Ein ganz normaler Held
eine die Pforte zum Himmel, die andere das Tor zur Hölle. Sie sah Dämonenfratzen auf sie zukommen, aus dem Höllentor: grell und farbig illuminiert, wie Masken aus einem verrückten Karneval. Tia bebte. Nein, das wollte sie nicht. Mit dem letzten Rest klaren Verstandes führte sie spezielle Atemübungen durch, die sie in ihrem eigentlichen Leben gelernt und trainiert hatte. Und tatsächlich: Die Dämonen verschwanden, und aus der anderen Pforte strömte tiefes Glück in sie hinein. Sie ließ sich davon treiben und hatte das Gefühl, mit allem eins zu sein, überall geborgen. Aber das wahre Glück lag draußen, in der Natur, die sie so liebte.
Tia stand auf. Wie eine Schlafwandlerin verließ sie die Hütte des Alten. Und dann stand sie unter dem freien Himmel und sah die Sterne, die zu ihr flüsterten. Farbige Schleier trieben zwischen ihnen und hüllten die Welt um sie herum ein. Sie und der Himmel waren eins. Sie atmete die Sterne und hörte ihr stilles Wispern. Sie sprachen miteinander, sie sprachen zu ihr. Sie sah die Lichterströme, die sich ganz oben, über ihr, am Gipfel des Firmaments vereinten, goldene Funken und Straßen aus purem Licht.
Tia ging in die Knie und legte sich auf den Rücken. Der goldene Baldachin bedeckte sie, und sie sah, wenn sie den Kopf drehte, die Gräser und Kakteen von innen heraus leuchten. Sie sah, wie die Lebenssäfte in ihnen aufstiegen, von Zelle zu Zelle, wie in einem Röntgenfilm. Sie hörte das Lied und das Flüstern der Pflanzen, und ein nie gekannter, tiefer Friede erfüllte sie. Sie sah große Ameisen auf ihrem Weg, sie trugen getötete Leiber von Fliegen und kleinen Spinnen. Sie wanderten an den Gräsern hinauf, und alles besaß seinen Sinn, seine Ordnung. Die Ameisen grüßten sie, und sie grüßte zurück. Sie war jetzt ein Teil dieser Natur, dieser Schöpfung. Wie Plato es gesagt hatte: ein Teil des Universums, dessen Flüstern sie hörte.
Eine tiefe Andacht überkam sie. Tia sah auf die durchscheinenden, illuminierten Pflanzen und Tiere, sie sah hinauf zu den Sternenfunken, und sie sah ... Gott. Sie, die nie eine Kirche von innen gesehen hatte, erfuhr das Erlebnis des Allen seins. Sie fühlte den Geist, der hinter der gesamten Schöpfung stand, und sie war glücklich. So lag sie über Stunden da, bis die Sonne aufging. Ein tiefer Friede hatte sich ihrer bemächtigt, und als sie die Augen aufschlug, ihr Blick verklärt, sah sie Plato über sich gebeugt. „Ich hätte dich nicht von dem Saft trinken lassen dürfen", sagte er. „Es war zuviel."
„Nein", erwiderte sie leise und glücklich lächelnd. „Es war gut, Plato." Seine Miene machte keinen überzeugten Eindruck. „Hast du gefunden, was du wolltest? Ich habe dich beobachtet, bis du aus der Hütte gegangen bist. Du hattest zu kämpfen."
„Das ist wahr, Plato", gestand sie. „Aber ich habe diesen Kampf gewonnen."
„Wie?"
„Weil ich ...", sie besann sich schnell eines Besseren,„... weil ich Glück hatte." Wie sollte sie ihm auch sagen, woher sie ihre Ausbildung hatte? „Ich fühle mich unglaublich gut", sagte sie,"aber ich bin jetzt wieder vollkommen ... nüchtern, so sagt man doch. Oder normal? Egal. Jedenfalls danke ich dir, Plato. Ich habe die Pforte zum Himmel aufgestoßen und meinen Gott gesehen. Ich werde es nicht noch einmal riskieren. Du hattest recht. Die Kraft, die in den Pflanzen wohnt, kann leicht den Verstand kosten. Ich würde den Versuch niemandem empfehlen."
„Das klingt überheblich", meinte Plato. „Es klingt, als würdest du dich höher als andere einschätzen."
Sie ergriff seinen Arm und schüttelte den Kopf. „Nein, Plato. Das ist es ganz sicher nicht. Frag mich nicht! Ich kann es dir nicht erklären."
„Dann werde ich keine weiteren Fragen mehr an dich stellen." Sie nickte und federte in die Höhe. Diesmal bereitete sie das Frühstück zu. Zum erstenmal in ihrem Leben schnitt sie Brot mit einem langen Messer und brühte eigenhändig grünen Tee auf. Sie fühlte sich glücklich, völlig unbelastet, und dabei sollte sie ...
Als sie und Plato am Tisch saßen und aßen, fielen ihr die Bienen ein. Dies war die erste Nacht gewesen, in der sie sie nicht kontrolliert hatte. Was war, wenn sie ausgerechnet jetzt mit der lang erwarteten Information zurückgekehrt waren? Wenigstens eine von ihnen? „Darf ich noch ein paar Tage bei dir bleiben, Plato?" fragte Tia, als sie fertig gefrühstückt hatten. „Ich meine, ich will dir keine Umstände machen."
„Das tust du nicht", sagte
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