2084 - Noras Welt (German Edition)
Mantel auf den Wagen zugelaufen kam. In der einen Hand hielt sie eine Wurst, in der anderen eine Illustrierte. Nora rief ihr hinterher: »Gleich hätte ich den Motor ausgestellt und den Zündschlüssel in den Schnee geworfen!«
Dann schnallte sie sich die Skier unter und machte sich auf in die Berge.
Sie dachte: Wir zerstören unseren Planeten. Ja, das tun wir, und wir tun es jetzt.
Ein paar Tage zuvor hatte sie einen Reserveschlüssel für die Berghütte machen lassen, damit Jonas aufschließen konnte, wenn er vor ihr dort eintraf. Sie war gespannt, wer heute schneller sein würde. Ungefähr auf halber Strecke hieß: für ihn waren es acht Kilometer und für sie nur fünf. Aber Jonas war der schnellere Läufer, und nur weil er über etwas nachdenken musste, brauchte er nicht langsamer zu sein als sonst. Vielleicht ist es gerade umgekehrt, dachte sie. Je schneller man denkt, desto schneller geht man ja oft. Und umgekehrt: Je schneller man geht, desto schneller denkt man.
Sie selbst dachte im Laufen an das Geiseldrama in Somalia und an ihr seltsames Telefongespräch mit Benjamin. Bevor sie das Handy in die Tasche steckte, hatte sie noch einmal die Online-Zeitungen gecheckt und auch ein wenig gegoogelt. Sie hatte gelesen, dass ausländische Fischereiflotten die Gewässer vor der somalischen Küste fast leer gefischt hatten und dass das vermutlich einer der Gründe für die Seeräuberei dort war. Solche Flotten, nicht zuletzt aus der EU , plünderten seit vielen Jahren illegal die somalischen Fischgründe und verdienten mit ihren Raubzügen Hunderte Millionen Dollar im Jahr. Inzwischen verlangte Somalia von der UN , man solle die Kriegsschiffe, die derzeit gegen die Piraten eingesetzt wurden, lieber gegen diese Raubzüge einsetzen. Sie hatte auch gelesen, dass Somalia gegen die illegalen kenianischen Pläne für Ölbohrungen vor der somalischen Küste protestierte. Der Meereskonvention der UN zufolge gehörten mehrere der Zonen, in denen gerade Probebohrungen durchgeführt wurden, zu Somalia. Zu den vier großen Ölgesellschaften, die daran beteiligt waren, zählte auch die norwegische Statoil. Zu dem Geiseldrama gab es keine neuen Nachrichten. Es hieß nur, die Geiselnehmer hätten noch keine Forderungen gestellt – eine typische Nicht-Nachricht.
Nora lief mit langen, gleitenden Schritten hinauf zu den letzten Höfen. Vor dem grünen Briefkasten des allerletzten hielt sie wie hypnotisiert inne. Hatte sie von solchen »grünen Kästen« nicht geträumt? Oder waren es grüne Automaten gewesen? – Nein, genauer konnte sie sich an diesen Traum nicht erinnern. Aber vielleicht stieg von den vielen Träumen der vergangenen Nacht ja noch mehr an die Oberfläche. Es war schließlich erst zwölf Uhr mittags.
Dann erreichte sie den Liawald. Dort hatte Nova mit ihrem Terminal unter den Sternen gesessen. Sie beschloss, eine Verschnaufpause einzulegen, und lächelte versonnen.
Sie selbst hatte in dem Wald ihr kleines Versteck, eine verborgene Lichtung, die im Winter so gut wie keiner optischen Verschmutzung ausgesetzt war, weil weder der Lichtschein des Dorfs noch die Scheinwerfer des nahen Slalomhangs so weit reichten. Nora konnte dort im tiefsten Dunkel stehen und in die Weltnacht hinausschauen, genau wie Nova. Wobei ihr selbst das Leben auf dem eigenen Planeten eindeutig mehr den Atem verschlug als alle leblosen Himmelskörper zusammen. War nicht ein Eichhörnchen aufregender als ein Schwarzes Loch? Waren ein Hase oder ein Fuchs nicht wichtiger als eine leblose Supernova?
Auch tagsüber ging Nora manchmal in den Liawald, immer wenn sie allein sein wollte. Einmal, es war noch gar nicht lange her, hatte sie sich mit Jonas gestritten. Er hatte von ihren »Trugbildern« gesprochen, und sie war darüber so traurig geworden, dass sie sich in den Wald zurückgezogen hatte.
Sie war auf der kleinen Lichtung noch nie Menschen begegnet. Nur Rehe hatte sie gesehen. Sie hielt Rehe schon immer für geheimnisvollere Geschöpfe als Menschen. Sie brauchten keinen Beruf auszuüben, gingen nicht zur Schule und mussten nie an ihre Hausaufgaben denken. Sie hatten weder ein Haus noch eine Religion und brauchten keine Versicherungen. Sie hatten keinen Namen und keine Personenkennziffer, und sie gehörten auch niemandem. Sie waren einfach nur. Und dennoch: Waren sie deshalb etwa weniger beseelt?
Wie mochte es im Kopf eines Rehs aussehen? Anders als im Kopf eines Dromedars?
Im Traum hatte Nova auf derselben kleinen Lichtung im
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