2084 - Noras Welt (German Edition)
Wald gesessen. Das heißt, sie hatte dort nicht gesessen – sie würde erst mit ihrem kleinen Terminal dort sitzen, in 72 Jahren. Und das war noch nicht alles: Es konnte unmöglich Zufall sein, dass Nova sich ausgerechnet diese verborgene Lichtung im Wald als Zufluchtsort ausgesucht hatte. Vielleicht war Uma einmal mit ihr dort hingegangen. Jedenfalls beschloss Nora, das zu tun: Wenn sie eines Tages wirklich Urgroßmutter eines Mädchens namens Nova würde, würde sie ihr genau diese kleine Lichtung im Wald zeigen …
Nora hatte das Gefühl, ihre Gedanken drehten sich wieder mal im Kreis, und sie lachte. Sie lachte so laut, dass sie ein paar Schneehühner im Unterholz aufschreckte. Bald darauf setzte sie ihren Weg fort. Eine Viertelstunde später hatte sie die Hochebene erreicht. Die mächtige Schlucht lag in der prallen Wintersonne, und vor ihr tat sich die ganze karge Bergwelt auf.
DAS WEGELABYRINTH
Es ist Spätherbst. Sie trägt einen roten Schal um den Hals und folgt einem schmalen Weg, der zur alten Berghütte führt. Die steilen, mit Birken bewachsenen Hänge liegen hinter ihr, gerade hat sie die Hochebene erreicht. Auch hier wachsen die Birken dicht an dicht. Sie weiß, dass hier oben einmal kahles Hochgebirge war, doch inzwischen ist das ehemals offene Terrain so von Birken und Weidengestrüpp bedeckt, dass sie weder die Schlucht unter ihr noch die Berggipfel über ihr sehen kann. Sie weiß natürlich, dass die hohen, mit Moos und Flechten bewachsenen Berge irgendwo hinter dem Birkenwald liegen, doch sie weiß davon so, wie man von alten Mythen und Sagen weiß. Wahrscheinlich kennt sie die Gegend gut genug, dass sie den Weg über verschlungene Pfade hinauf fände, und vielleicht versucht sie es irgendwann einmal, aber von da, wo sie sich jetzt befindet, ist von den Bergen nichts zu sehen. Dennoch ist sie gern zwischen den weißen Birkenstämmen unterwegs. Bäume und Heidekraut leuchten in starkem Gelb und Rot; in diesem Jahr ist noch dazu der Waldboden von Blaubeeren und Preiselbeeren bedeckt.
Sie geht mit leichten Schritten, fast als schwebte sie ein paar Millimeter über dem Erdboden. Als der Pfad, auf dem sie geht, einen anderen kreuzt, wechselt sie ohne nachzudenken die Richtung – zur Hütte kann sie auch ein andermal.
Sie schämt sich fast, dass sie das Wegelabyrinth hier oben mag, denn sie weiß, dass es den fast endlosen Birkenwald nur gibt, weil so viel von der ursprünglichen Flora und Fauna der Berge verschwunden ist. Die herkömmliche Bergwelt, in der einmal Kühe, Schafe und Ziegen auf der Sommerweide standen, gibt es schon lange nicht mehr. Sie kennt den Preis für das Wegelabyrinth im Birkenwald: Es waren Dürreperioden, Hungersnöte und Klimakrisen in anderen Teilen der Welt.
Doch nun gibt sie sich der neuen Landschaft hin. Sie gehört zu dieser Landschaft. Als sie ein rot gestrichenes Schilderhäuschen im Wald erreicht und einen uniformierten Soldaten vor einer geschlossenen Schranke stehen sieht, erschrickt sie zwar, aber nur kurz, denn es ist trotz allem ihr Wald, und sie kennt die Regeln, die hier gelten.
Der Soldat will sich ihr Terminal ansehen. Na schön, soll er, denkt sie und reicht ihm das Gerät. Er berührt den Bildschirm und tastet sich in wildem Tempo durchs Netz. Es kommt ihr vor, als suchte er in wenigen Sekunden mindestens hundert verschiedene Websites auf. Doch dann gibt er ihr das Terminal zurück, öffnet die Schranke und lässt sie passieren.
DIE BERGHÜTTE
Nora schloss die Tür der Hütte auf. Im Windfang heulte ein kalter, bissiger Wind, aber sie heizte schnell den Ofen und setzte Teewasser auf. Sie war vor Jonas eingetroffen, was sie ein bisschen ärgerte …
Manchmal, wenn sie hier oben allein war, hatte sie das unerklärliche Gefühl, mit einem oder mehreren unsichtbaren Freunden zusammen zu sein. Und nicht selten hörte sie das Gesumm der Stimmen dieser Unsichtbaren nicht durch die Wände, sondern in ihrem Kopf. Wenn sie in der richtigen Stimmung war, rief sie dann laut und deutlich: »Nein, da kann ich dir keineswegs zustimmen.« Oder: »Genau! Ganz meine Meinung!« Dabei wurde sie manchmal so laut, dass sie die kleinen Vögel auf dem Hof vor der Hütte aufscheuchte. Wäre jemand vorbeigekommen, hätte er geglaubt, sie führe Selbstgespräche. Sie selbst hatte dabei niemals Angst.
Heute war es so, dass sie plötzlich ihre eigene Stimme rufen hörte: »Ester! Was ist mit Ester?«
Sie zog rasch das Handy aus der Brusttasche. Sie hatte hier oben
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