2084 - Noras Welt (German Edition)
Auch einen Bienenstock hatten sie in dem kleinen Garten, aber der Vater hatte sowieso beschlossen, die Imkerei bald aufzugeben.
»Die Sommer sind so kurz, Nora. Und ein kühles Bad tut gut, wenn die Sonne vom Himmel brennt. Gesund ist es noch dazu.«
Auf dem Rasen standen eine weiß gestrichene Bank und Gartenstühle um einen kleinen Tisch, dahin dirigierte Nora die Mutter jetzt und bat sie, sich zu setzen. Die Mutter setzte sich brav auf die Bank, und Nora setzte sich ihr gegenüber auf einen Stuhl, damit sie ihr in die Augen schauen konnte. Dann sagte sie:
»Habt ihr bei euren Berechnungen auch bedacht, was wir danach jedes Jahr an Einkünften aus dem Garten verlieren werden? Was ist mit den Birnen und Pflaumen, den Kirschen und Johannisbeeren? Oder meinetwegen auch mit den Rosen?«
Nora bot ihre Hilfe bei dieser neuen Rechnung an und machte die Mutter darauf aufmerksam, dass es bei einem Garten wie überhaupt in der Natur nicht nur um Schönheit ging. Sie sprach davon, welche Dienste ihnen die Natur leistete. So könne man es nämlich nennen: Dienste. Zum Schluss erklärte sie der Mutter, dass sie den schönen Rasen mit den roten und weißen Kleeblüten liebte, und zwar so, wie er war, bitte sehr. Sie spaziere gern durch den Garten, sie fühle sich als ein Teil davon, und falls es der Mutter nicht klar sei: Sie, Nora, sei auch noch nicht zu alt, um auf den Birnbaum zu klettern.
Um sicherzugehen, dass die Mutter sie verstanden hatte, fügte sie hinzu: »Ich fühle mich hier wohl.«
Danach wurde kein Wort mehr über das Schwimmbecken verloren.
TULPEN
Sie geht am Fluss entlang, mit einem Strauß roter Tulpen, den sie vermutlich im Laden gekauft hat.
Plötzlich hört sie vom anderen Flussufer einen lauten Knall. Dann noch einen und noch einen. Sie läuft über die Brücke und hört rhythmische Axthiebe aus dem Kiefernwald oben am Hang. Sie sieht, wie eine der Kiefern fällt. Wenig später fällt noch eine.
Sie folgt einem schmalen Weg und erreicht den Hügelkamm. Von hier irgendwo hat sie die Axthiebe gehört. Dann sieht sie die Gruppe Männer in blauen Uniformen. Jeder hat eine Axt, mit der er auf einen Baum einschlägt. Es mögen um die zwanzig Männer sein. Es kommt ihr vor, als wären sie alle über zwei Meter groß und über hundert Kilo schwer.
Einer der Riesen trägt eine rote Mütze mit einer Quaste. Der Vorarbeiter? Sie geht zu ihm und schaut in ein helles Gesicht. Der Mann hat veilchenblaue Augen. Die Axt lässt er kurz sinken.
Sie fragt: »Was tun Sie hier?«
Der Mann wischt sich den Schweiß von der Stirn und antwortet: »Wir fällen die Bäume.«
»Warum?«
Er lacht, und sie denkt, er amüsiert sich über ihre naive Frage. Aber er ist nicht unfreundlich. Er sagt: »Hier soll ein Windpark errichtet werden, und dazu muss der Wald weg. Plus und minus, junge Frau, eine ganz einfache Rechnung.«
»Ich finde es nur schade, dass uns dann der Wald verloren geht.«
Wieder lacht der Mann. Er schaut auf die roten Tulpen und sagt: »Und wenn es bei unserer unverhofften Begegnung um etwas ganz anderes ginge?«
»Wie meinen Sie das?«
»Vielleicht möchtest du mich fragen, wie lange wir für die Arbeit hier brauchen.«
»Also: Wie lange brauchen Sie für die Arbeit hier?«
Er hebt den Daumen und sagt: »Wir haben einen zeitigen Frühling, wir sind zwanzig Mann, und wir haben scharfe Äxte. – Ich denke, wir werden es bis Weihnachten schaffen.«
Sie nickt. »Dann wünsche ich schon mal ein frohes Fest.« Sie gibt ihm die roten Tulpen und fügt hinzu: »Und bitte sehr, ich glaube, die sind für Sie.«
Der Riesenkerl macht eine höfliche Verbeugung. »Dann sage ich mal vielen Dank. Willst du noch eine witzige Rechenaufgabe hören?«
Sie schaut fragend in die veilchenblauen Augen und nickt noch einmal.
Er sagt: »Mit einem Fass Benzin und einer Motorsäge könnte ich allein die Arbeit hier in zwei Tagen erledigen.«
DER ZÜNDSCHLÜSSEL
Noras neues Handy steckte schon in der Brusttasche ihres blauen Anoraks, als ihr Blick auf die beiden Kartons mit den Zeitungsausschnitten und Ausdrucken fiel.Sie schob den Inhalt der Kartons in zwei Plastiktüten, die sie zusammengerollt in die großen seitlichen Anoraktaschen steckte. Dann machte sie sich, die Stöcke in der linken Hand und die Skier über der rechten Schulter, auf den Weg zur Tankstelle.
Vor der Waschanlage stand ein großes Auto mit laufendem Motor. Nora hatte kaum die Skier an einen Schneehaufen gelehnt, als eine Frau in einem gelben
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