2084 - Noras Welt (German Edition)

es grenzenlose Möglichkeiten des Glaubens …
Es ist dem Erdenbürger erlaubt zu glauben, und es ist ihm erlaubt, auf Erlösung zu hoffen. Es steht nur nicht fest, dass ihn ein neuer Himmel und eine neue Erde erwarten. Es ist außerdem zweifelhaft, ob überirdische Mächte jemals ein Jüngstes Gericht veranstalten werden. Sicher ist nur, dass eines Tages unsere eigenen Nachkommen ein Urteil über uns fällen werden. Wenn wir vergessen, an sie zu denken, werden sie uns das niemals vergessen.
     
    »In die Weltnacht hinauszuschauen bedeutet, die Grenzen unseres Verstandes zu erkennen…« In die Weltnacht hinaus oder in uns selbst hinein. Das fand Nora nämlich genauso geheimnisvoll. Vielleicht gab es da sogar einen Zusammenhang. Konnte das sein? Ein Zusammenhang zwischen den vielen Rätseln in der Tiefe ihres eigenen Gemüts und denen, die sich hinter dem physischen Universum da draußen verbargen?

KLIMAZERTIFIKATE
     
    Es regnet in Strömen. Sie trägt hohe Stiefel und geht unter ihrem großen roten Regenschirm. Sie will nur kurz in den Laden, um einzukaufen, vermutlich etwas, das sie zum Kochen brauchen. Seit einiger Zeit sind manche Dinge knapp geworden.
    Vor dem Laden hat man einen kleinen Verkaufsstand aufgebaut. So etwas sieht sie hier zum ersten Mal. Ein Mann mit weißen Haaren und einem grauen Kittel steht hinter einem Tisch voller knallbunter Prospekte. Als sie näher kommt, sieht sie, dass es sich um alte Reisekataloge handelt. Sie sehen blitzblank und wie neu aus, aber sie weiß, dass sie aus alten Zeiten stammen. Solche Prospekte werden heute nicht mehr gedruckt. Vom Dach über dem Stand hängt ein blaues Banner mit der Aufschrift: BILLIGE KLIMA ZERTIFIKATE .
    Sie nimmt sich einen der Kataloge mit den verlockenden Bildern weißer Strände und knallblauer Swimmingpools, und der weißhaarige Mann lächelt freundlich. Sie stehen beide vom Regenwetter geschützt, und er ist offenbar beeindruckt von ihrem riesigen Schirm. Er sagt:
    »So ein kleiner Urlaub an der Sonne wäre jetzt gar nicht verkehrt, stimmt’s, junge Frau? Klimazertifikate gibt’s hier bei mir.«
    Sie legt den Katalog zurück, zeigt auf den Tisch und sagt: »Die sind doch mindestens vierzig Jahre alt.«
    »Ganz richtig«, antwortet der weißhaarige Mann.
    »Wenn Sie keine echten Reisen verkaufen, brauche ich auch keine echten Zertifikate.«
    Er schaut überrascht, beinahe beleidigt.
    »Wer behauptet, dass die Zertifikate echt sein müssen? Dir ist doch sicher klar, dass das hier nur ein Spiel ist?«
    Er reißt ein Formular von einem Block, zieht einen roten Filzstift aus der Kitteltasche und fragt: »Wie heißt du?«
    »Nova«, antwortet sie.
    »Nachname?«
    »Nyrud.«
    Er füllt das Formular aus und reicht es ihr. Sie liest:
     
Klimazertifikat. Nora Nyrud erhält hiermit die Erlaubnis, eine Tonne CO 2 freizusetzen, was einer Flugreise für zwei Personen von Oslo nach Alicante oder Neapel entspricht.
     
    Sie schaut erst den Zettel und dann wieder den Mann an.
    »Aber ich will doch gar nicht verreisen.«
    Er nickt.
    »Deshalb bekommst du das Zertifikat auch gratis. Wenn du wirklich vorhättest, eine ganze Tonne CO 2 freizusetzen, müsstest du natürlich dafür bezahlen. Die Erdatmosphäre zu versauen hat schließlich seinen Preis.«
    »Natürlich.«
    »Gut. Ich sehe, du hast die Spielregeln verstanden. Du kannst mit dem besten Gewissen egal wohin verreisen, wenn du nur entsprechend der zurückgelegten Entfernung Klimazertifikate kaufst. Das Ganze basiert auf einer denkbar einfachen Mathematik.«
    Die Logik dahinter begreift sie trotzdem nicht.
    »Soll das heißen, ich kann verreisen, ohne die Umwelt zu belasten, wenn ich nur entsprechende Zertifikate kaufe?«
    Der Mann mit den weißen Haaren nickt.
    »Genau. Dann reist du nämlich klimaneutral, und das ist allemal besser, als klimanegativ zu reisen. Den großen Unterschied gibt’s bei mir für ein, zwei Hunderter.«
    Sie betrachtet noch einmal die vielen bunten Bilder. Palmen und Strände sind schon eine Versuchung. Über manchen Bildern steht »billig«, »superbillig« oder »das billigste Angebot des Winters«. Sie schaut wieder zu dem Mann mit den weißen Haaren auf und sagt:
    »Dann sollte ich also am besten doppelt so viele Zertifikate kaufen, wie ich eigentlich brauche. Denn wenn ich das täte, wäre es für das Klima sogar gut, wenn ich wie eine Besessene um die Welt reise, stimmt’s?«
    Der Mann überlegt. Er scheint Berechnungen anzustellen. Doch dann nickt er und sagt voller