2084 - Noras Welt (German Edition)
ist, und sie hat diese ganzen synthetischen Lebensmittel satt, auch wenn es heißt, dass darin alle lebenswichtigen Nährstoffe enthalten sind. Als Uma sie darum bittet, hilft sie den Gartentisch decken, auf dem schon eine Vase mit roten Tulpen steht. Bevor sie das leere Tablett vom Tisch räumt, nimmt sie das Bündel Ballons von der rechten in die linke Hand. Sie passt nur für den Bruchteil einer Sekunde nicht auf, und schon rutschen ihr die Schnüre aus der Hand. Es geht ganz schnell.
Da!
Vor kaum einer Viertelsekunde hatte sie die Ballons noch in der Hand, jetzt fliegen sie schon eine gute Armlänge über ihrem Kopf. Noch sind sie nah genug, dass Nora sie vielleicht erreichen kann, und sie versucht es auch und springt und greift nach ihnen. Aber sie kommt eine Winzigkeit zu spät. Die Ballons steigen höher und höher, bis der Wind sie auseinanderweht und sie als kleine rote Punkte im Himmelsblau verschwinden.
DAS SCHWIMMBECKEN
Es gab zwei Möglichkeiten. Entweder hatte Nora die vielen Episoden aus einer fernen Zukunft alle in der vergangenen Nacht geträumt – dann hatten sie sich zwischen gestern Abend, als sie zu Bett ging, und heute Morgen, als sie aufwachte, wie bunte Perlen auf einer Schnur aneinandergereiht. Oder sie holte ihre Träume schon länger immer aus demselben Traumuniversum und konnte sich erst heute an alle erinnern. Der Traum von Uma und dem roten Ring stammte eindeutig aus der vergangenen Nacht, denn aus dem Traum war sie aufgewacht – oder war es nur der eine, der die vielen anderen aus einem Meer der Vergessenheit gezogen hatte?
Welche der beiden Möglichkeiten war wohl wahrscheinlicher? Und aus welcher wurde man schwerer oder leichter schlau?
Allerdings gab es noch eine dritte Möglichkeit, und Nora war nicht bereit, sie auszuschließen: Alles, was sie geträumt hatte, konnte auch wahr sein. Vielleicht hatte sie wirklich weit in der Zukunft eine Urenkelin, ein Wunderkind, das seine Eindrücke und Erlebnisse auf geheimnisvolle Weise auf seine Urgroßmutter übertragen konnte, also auf Nora, die jetzt ungefähr so alt war, wie Nova es in ihren Träumen gewesen war. Es gab viele Dinge auf der Welt, die der Mensch nicht verstand. Zeit zum Beispiel. Denn was war Zeit?
Eines stand immerhin fest: Novas Eltern, die auf Leitern gestanden hatten, um die Obstbäume in ihrem Garten von Hand zu bestäuben, hatten nicht die geringste Ähnlichkeit mit Noras eigenen Eltern gehabt. Sie ähnelten niemandem, den Nora je gesehen hatte. Sie konnte sich nicht erinnern, jemals eine so schöne Frau gesehen zu haben wie Novas Mutter, nicht einmal im Film. Aber sie hatte auch noch nie einen so attraktiven Mann wie Novas Vater getroffen. Das wache und aufmerksame Funkeln in seinen Augen sah sie immer noch vor sich, und Nora hätte viel darum gegeben, ihn wiederzusehen.
Besaß sie hellseherische Fähigkeiten, und waren die Menschen, denen sie im Traum begegnete, richtige Menschen, die irgendwann in ferner Zukunft leben würden? Oder war es ihre Fantasie, die sie zwei so besondere Menschen erschaffen ließ? Was war die verrücktere Vorstellung? Vielleicht doch die, dass sie die beiden erschaffen hatte.
Wenn sie zeichnen könnte, könnte sie die Gesichter von Novas Eltern bis ins kleinste Detail wiedergeben. Wenn sie die beiden auf der Straße sähe, würde sie sie sofort erkennen und zu ihnen hingehen, um sie zu begrüßen. Und ein Elternteil, er oder sie, wäre auch noch ihr Enkelkind.
Wieder fiel ihr der Brief ein, den Nova im Netz gefunden hatte, der Bildschirmbrief, den die junge Uma geschrieben hatte. Uma, die ja Nora war! Ihr war schwindlig von so vielen Verwicklungen!
Bewusstsein, Träume!
Was war überhaupt Bewusstsein? Und was waren Träume?
Im Badezimmer musste sie daran denken, wie sie einmal in den Garten kam und ihre Mutter mit einem Maßband herumlaufen sah. Nora wollte wissen, was sie da mache, und die Mutter antwortete, sie könnten vielleicht ein kleines Schwimmbecken anlegen. Es sei gar nicht so teuer, sagte sie, viel billiger, als sie und der Vater sich vorgestellt hatten. Sie hatten es sich schon ausrechnen lassen.
Erst wunderte sich Nora nur, doch dann machte sie sich ernsthaft Sorgen, vor allem um ihre Mutter. In dem Garten war doch gar kein Platz für ein Schwimmbecken! Aber die Mutter bestand darauf, dass der Platz reiche, gerade messe sie ja eigens noch einmal nach. Sie müssten natürlich die Obstbäume fällen. Und die Rosen und die Johannisbeersträucher entfernen.
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