2084 - Noras Welt (German Edition)
einen guten Empfang. Sie versuchte es bei ihrer Lieblingswebsite, und diesmal gab es jede Menge Nachrichten:
Breaking News: Die amerikanische und die ägyptische Geisel wurden von den Geiselnehmern in Somalia freigelassen und haben die Grenze nach Kenia überquert, wo sich die lokalen Behörden und Vertreter des Welternährungsprogramms um sie kümmern. Nur die norwegische Entwicklungshelferin Ester Antonsen wird weiterhin in dem vom Krieg verwüsteten Land am Horn von Afrika gefangen gehalten … Die freigelassenen Sarah Hames und Ali Al-Hamid (Foto) haben die Forderungen der Entführer übermittelt: Die norwegische Geisel soll freigelassen werden, wenn im Gegenzug Statoil garantiert, sich von Kenia nicht zu den in den Augen der Geiselnehmer illegalen Probebohrungen in somalischen Gewässern verpflichten zu lassen … Hames und Al-Hamid beschreiben die Entführer als professionell und entschieden.
Mehr brauchte Nora nicht zu lesen. Sie wählte Benjamins Nummer, und schon nach wenigen Sekunden meldete er sich.
»Ben.«
»Hier ist Nora. Wie geht’s dir?«
»Ich muss mich kurz fassen – ich darf die Leitung nicht blockieren.«
»Aber du bekommst die Hilfe, die du brauchst?«
»Ich muss auch Hilfe geben. Ester hat auch eine Familie.«
»Ist denn jemand bei dir?«
»Im Augenblick nicht. Aber ich stehe in dauerndem Kontakt mit dem Außenministerium.«
»Und von Ester selbst hat niemand was gehört?«
»Nein. Ich mache mir Sorgen, wie es ihr geht.«
»Klar.«
»Schon als Kind hat Ester immer unter Klaustrophobie gelitten. – Du weißt, was das ist?«
»Angst vor geschlossenen Räumen?«
»Und ich, der Psychiatervater, hab ihr nicht helfen können. Wenn sie in New York ist, nimmt sie manchmal für dreißig, vierzig Stockwerke die Treppe, weil sie nicht in den Fahrstuhl steigen will. – Aber ich muss aufhören, Nora. Ich kann jetzt wirklich nicht länger mit dir reden.«
»Moment noch!«
»Aber bitte schnell!«
»Du musst stark sein und versuchen, negative Gedanken zu vertreiben. Nimm dein Handy und geh erst mal eine Runde joggen. Du brauchst einen freien Kopf, also raus mit dir!«
»Du bist ein seltsames Kind, Nora, aber vielen Dank.«
Um überhaupt etwas zu tun und nicht nur herumzustehen und an der Unterlippe zu nagen, zog Nora die Plastiktüten mit den Zeitungsartikeln und Ausdrucken aus den Anoraktaschen. Erst legte sie alles nur auf eine alte Truhe, doch dann öffnete sie die Tüten und breitete die Papiere auf dem Tisch aus, die aus dem Was-ist-die-Welt -Kartonam einen, die aus dem Was-muss-getan-werden -Kartonam anderen Ende.
Zwischendurch ging sie ein paarmal zum Fenster und hielt nach Jonas Ausschau. Wenn sie sich dicht genug ans Fenster stellte und schräg nach rechts schaute, hatte sie mehrere Kilometer freie Sicht nach Südwesten. Von dort musste er kommen, aber sie konnte in dem offenen Gelände keinerlei Bewegung erkennen, auch nicht in der steilen Schlucht ganz am Rande ihres Blickfelds.
Es war mitten am Tag, und trotzdem stand die Sonne tief am Himmel; es waren nur noch wenige Tage bis zur Wintersonnenwende. Das stechend scharfe Licht fiel annähernd waagerecht ins Fenster.
Sie hoffte, dass Ester nicht gefesselt und mit dem Gesicht im Lehmboden in einem dunklen Raum liegen musste, auch wenn sich ihr genau das Bild aufdrängte. Als Gegenmittel beschloss sie, fest zu glauben, dass Ester von den Entführern gut behandelt wurde. Sie hoffte außerdem, dass Statoil so schnell wie möglich die von den Geiselnehmern geforderte Garantie gab. Wenn nicht, würde sie sich mit ihrer Umweltgruppe gleich morgen eine Aktion ausdenken.
Einer der Zeitungsausschnitte auf dem Tisch handelte ausgerechnet von Glaube und Hoffnung. Er hatte in dem Was-ist-die-Welt -Kartongelegen.
Maßgeblichen Theorien zufolge ist die Welt vor 13,7 Milliarden Jahren entstanden. Dieses Ereignis wird oft als »Big Bang« oder »Urknall« bezeichnet. Wir sollten freilich nicht vorschnell ein Gleichheitszeichen zwischen die Geburt des Universums und den Anfang aller Dinge setzen. Beim Big Bang kann es sich nämlich ebenso gut um einen kontinuierlichen Übergang zwischen zwei Ordnungen gehandelt haben.
Was immer »unter« oder »hinter« dem Universum steckt, kann niemand erklären. Die Welt ist ungeheuer rätselhaft. So gesehen verdient auch derjenige Respekt, der sich dem Unergründlichen beugt.
In die Weltnacht hinauszuschauen bedeutet, die Grenzen unseres Verstandes zu erkennen. Hinter dessen Horizont gibt
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