2084 - Noras Welt (German Edition)
Ben?«
»Ben?«
»Wenn er sich kurz fassen muss, sagt er nur Ben. Ich schicke ihm eine SMS .«
Sie gab nur zwei Wörter ein: Irgendwas Neues?
Nach zwei Minuten kam die Antwort: Nichts. Ich sag dann Bescheid.
Nora seufzte.
»Jetzt hat es ihn doch runtergezogen«, sagte sie.
Jonas blätterte in den Papieren, die vor ihm auf dem Tisch lagen. Er zog einen Zeitungsausschnitt heraus und las vor:
»Die menschliche Natur ist geprägt von einem horizontal ausgerichteten Orientierungssinn. Wir mussten unsere Blicke immer hin und her wandern lassen und nach möglichen Gefahren oder nach Beute Ausschau halten. In der horizontalen Orientierung zeigt sich unsere natürliche Veranlagung, uns und unsere Familie zu beschützen. Doch diese natürliche Veranlagung erstreckt sich nicht auf den Schutz späterer Nachkommen – von anderen Arten als unserer eigenen ganz zu schweigen.
Es liegt tief in unserer Natur als Lebewesen, uns zuerst um unsere eigenen Gene zu kümmern und sie zu beschützen. Aber wir besitzen keine natürliche Veranlagung, das auch für unsere Gene in vier oder acht Generationen zu tun. Das müssen wir erst lernen. Wir müssen es lernen, wie wir die Erklärung der Menschenrechte auswendig lernen mussten.
Seit wir Menschen irgendwo in Afrika entstanden sind, kämpfen wir verbissen um unseren Zweig am Stammbaum der Evolution. Wir wollen nicht, dass er abgesägt wird. Und wir hatten Erfolg in diesem Kampf, denn wir sind immer noch da. Der Mensch als Art war nur dermaßen erfolgreich, dass er sich inzwischen selbst zur Bedrohung geworden ist. Wir haben unsere Sache so gut gemacht, dass wir nicht nur unsere eigenen Lebensgrundlagen, sondern die aller Arten in Gefahr bringen.
Ein verspielter, fantasievoller und dazu noch eitler Primat vergisst leicht, dass letztlich auch er Natur ist. Aber sind wir so verspielt und eitel, dass uns das Spiel wichtiger ist als unsere Verantwortung für die Zukunft unseres Planeten?«
»Das ist eine gute Frage«, kommentierte Jonas.
»Was denn?« Nora hatte nur halb zugehört und an die große Frage gedacht, die sie ihm vor ein paar Stunden am Telefon gestellt hatte. Wie können wir es schaffen, tausendundeine Tier- und Pflanzenart zu retten?
Er zeigte auf den Zeitungsartikel, den er vorgelesen hatte, und wiederholte die darin zuletzt gestellte Frage in seinen eigenen Worten: »Sind wir so verspielt, dass wir unsere Verantwortung für die Zukunft des Planeten an die zweite Stelle setzen? – Ich sagte: Das ist eine gute Frage!«
Sie lächelte nachsichtig. »Darum hab ich den Artikel ja aus der Zeitung ausgeschnitten.« Nora fand es schön, dass Jonas sich dafür interessierte, was sie gesammelt hatte, aber sie war auch gespannt darauf, ob ihm auf dem langen Weg hinauf in die Berge schon eine Antwort auf ihre Frage eingefallen war.
»Und, was machen wir? Wie verhindern wir, dass tausendundeine Tier- und Pflanzenart ausgerottet wird?«
Er legte den Zeitungsausschnitt zurück auf den Tisch, wobei sein Blick auf einen anderen fiel, den er überflog und vorlas, als enthielte er eine Antwort auf Noras Frage:
»Wenn wir die biologische Vielfalt auf diesem Planeten retten wollen, brauchen wir eine kopernikanische Wende unseres Denkens. So naiv der Glaube war, alle Himmelskörper bewegten sich auf einer Bahn um die Erde, so naiv ist es zu leben, als drehte sich alles nur um unsere eigene Zeit. Unsere Zeit hat keine größere Bedeutung als alle Zeiten, die noch kommen werden. Für uns ist natürlich unsere eigene Zeit die wichtigste. Aber wir dürfen nicht so leben, als wäre sie es auch für all die, die nach uns kommen.«
Jonas nickte nachdenklich und schaute er über den Tisch hinweg zu Nora.
»Stimmt, von heute aus gesehen, war es der totale Schwachsinn zu glauben, die Erde sei der Mittelpunkt des Universums und alle anderen Himmelskörper drehten sich um ihn herum. – Und genauso ein totaler Schwachsinn ist es, so zu leben, als ob uns noch andere Planeten zur Verfügung stünden als der, den wir haben und uns notgedrungen alle teilen müssen, oder?«
So berechtigt die Frage war, Nora wurde allmählich ungeduldig. Sie wollte wissen, was Jonas selbst sich überlegt hatte. Der aber nahm seelenruhig noch ein Blatt vom Was-muss-getan-werden -Stapel.
»Einer alten Fabel zufolge springt ein Frosch, den man in kochendes Wasser setzt, sofort wieder heraus und rettet sein Leben. Setzt man den Frosch dagegen in einen Topf mit kaltem Wasser und erhitzt es langsam bis zum
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