2084 - Noras Welt (German Edition)
einzelne Menschen noch überschauen könnten. Es sind Fragen wie: Was tue ich eigentlich für den Amazonas? Welche Verantwortung übernehme ich für die afrikanische Savanne oder für den Fischbestand im Atlantik? Aber so denken die Menschen nicht. So ist das menschliche Gehirn nicht konstruiert.
Der Mensch ist ein verspieltes, ichbezogenes, individualistisches Tier. Alle Versuche, die Menschheit und den Planeten, auf dem wir leben, zu retten, müssen davon ihren Ausgang nehmen. Ich möchte als Erstes ein Beispiel vorstellen:
Gesetzt den Fall, du interessierst dich besonders für Tiger und willst helfen, gerade diese Art vor der Ausrottung zu bewahren. Dann könntest du in die Stadt gehen und alle, die dir begegnen, fragen, wie viel sie ausgeben würden, um die Lebensräume der Tiger zu retten. Vielleicht nimmst du eine Sammelbüchse mit und sammelst für den Tigerfonds, oder du organisierst einen Basar, einen Flohmarkt oder eine Lotterie. Da du dich an Menschen wendest, sind Dinge wie ein Basar, ein Flohmarkt oder eine Lotterie durchaus Mittel der Wahl.
Fast alle werden, ohne groß darüber nachzudenken, eine Krone für den Tiger geben, manche auch zehn, also ungefähr so viel wie für einen Schokoriegel oder einen Brownie. Aber einige werden auch hundert Kronen geben, um den Tigern zu helfen, und einige sehr wenige sogar tausend oder zehntausend, jedenfalls wenn sie dafür in die Zeitung kommen. Wir dürfen zudem auf den ein oder anderen von Tigern faszinierten Großinvestor zählen, der gern ins Gespräch kommen möchte und vielleicht eine Million Dollar oder Euro spendet, damit die Tiger auch unseren Nachkommen erhalten bleiben. Für solche Summen werden ja auch Kunstwerke gekauft, also Dinge, die zwar Freude machen mögen, solange es sie gibt, die aber nicht lebendig sind, sich also nicht reproduzieren und sich deshalb nie weiter auf der Welt verbreiten können. Früher oder später wird dann auch eine vermögende Witwe ihr Testament zugunsten der Tiger machen, vielleicht weil der Großvater der alten Dame als britischer Leutnant in Indien gedient und dort leider acht dieser wunderbaren Tiere geschossen hat, was seiner Enkelin auch deshalb zu schaffen macht, weil, nun ja, das Fell eines dieser Tiere noch heute vor dem Kamin der alten Familienbibliothek zu Hause in Birmingham liegt.
Natürlich muss es überall auf der Welt möglich sein, Geld zur Rettung der Tiger zu spenden, indem man es auf ein bestimmtes Bankkonto einzahlt, eben den Tigerfonds oder das Tigerkonto. Nehmen wir an, es sind einige Millionen Menschen, die in regelmäßigen Abständen Geld auf dieses Konto einzahlen, vielleicht einmal im Monat, denn natürlich kann man sich als Tigerpate registrieren lassen – dann kommen rasch einige Milliarden Euro oder Yuan für ein Programm zur Erhaltung der Lebensräume der Tiger zusammen. Als Erstes müssten dann beträchtliche Mittel in die Hand genommen werden, um den illegalen Fang und die Wilderei von Tigern und deren Beutetieren zu unterbinden, und schlimmstenfalls wäre dafür ein Heer von Wildhütern nötig. Auf dem Schwarzmarkt wird heute leicht eine halbe Million Kronen für ein Tigerfell bezahlt, und der Preis steigt umso höher, je weniger wild lebende Tiere es noch gibt. Die Preise steigen zudem, wenn strengere Strafen für diese Art von Faunakriminalität eingeführt werden – und dennoch müssen solche strengen Strafen sein. Das Wildhüterprogramm insgesamt aber ist nur ein erster Schritt, denn in der Folge müssen auch sichere Korridore zwischen den verschiedenen Tigerpopulationen angelegt werden, um Inzucht zu vermeiden. Es muss für Beutetiere gesorgt werden, von denen die Tiger leben, etwa Wildschweine, Damwild und Antilopen, was wiederum bedeutet, dass für die Vegetation gesorgt werden muss, von der solche pflanzenfressenden Tiere abhängig sind. Umgekehrt bedeutet der Erhalt der Tiger, dass auch eine Vielzahl anderer Tier- und Pflanzenarten erhalten bleibt. So gesehen sind die Tiger nur ein Symbol für etwas Größeres, und wenn sie verschwänden, wäre es ein Zeichen dafür, dass die Natur als Ganzes in Au fl ösung begriffen ist.«
»Na gut«, sagte Nora. »Schön. Aber wieso die Tiger? Warum nicht die Eisbären?«
»Ich glaube, die Frage beantworte ich gleich im nächsten Absatz«, sagte Jonas über die Schulter, und Nora las weiter:
»Warum aber nur eine bestimmte Art in den Mittelpunkt unserer Bemühungen stellen? Was ist mit dem Uhu und dem Bergfuchs? Was mit Fröschen
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