2084 - Noras Welt (German Edition)
schönen Mädchens, um das Aladin warb. Jedenfalls soll er den Zauberer sogar um dessen magischen Ring gebracht haben, und mit dem Ring am Finger, heißt es, sei dieser Aladin vor jeder Art von schwarzer Magie geschützt gewesen, was immer der böse Zauberer auch versuchte.«
Jonas räusperte sich. »Und dieser Aladin soll derselbe sein wie der aus dem Märchen?«
Nora nickte erst, dann schüttelte sie den Kopf. »Nicht unbedingt«, sagte sie. »Es hat in Gudbrandsdalen ja auch einmal ein Peer Gynt gelebt – aber war das derselbe wie in Ibsens Schauspiel? Wohl kaum. Im Übrigen reicht es mir vollkommen, wenn ich mit dem Ring eines nachgewiesenen Aladin aus dem Persien des 13. Jahrhunderts vor dir sitze. Wenn meine ach so vernünftige Mutter recht hat, gibt es sowieso noch eine andere Erklärung.«
»Erzähl«, sagte Jonas. »Eine vernünftige Erklärung wäre mir auch lieber.«
Mit einem Blick in seine Augen sagte sie: »Sie hält es für denkbar, dass der Ring wirklich von diesem Aladin aus dem 13. Jahrhundert stammt. Aber es wäre natürlich möglich, dass dieser Aladin nach dem Märchenhelden benannt war. Niemand weiß ja, wie alt das Märchen ist.«
»Klingt überzeugend«, sagte Jonas. »Ich glaube, ich stimme deiner Mutter zu. Neulich im Wartezimmer haben wir über alles Mögliche geredet, da hatte ich auch den Eindruck, sie ist in eurer Familie so was wie die Stimme der Vernunft.«
»Ganz bestimmt sogar«, sagte Nora. Und dann wiederholte sie es, laut und heftig, fast wie eine Drohung: »Ganz bestimmt sogar! Aber Tante Sunniva hat nach ihrer Rückkehr noch mehr über den Ring erzählt, etwas, woran sie bis an ihr Lebensende fest geglaubt hat. Allerdings versteht man das nur, wenn man sich das Märchen aus Tausendundeine Nacht ein bisschen genauer anschaut.«
Jonas schaute auf die Uhr, und sie wusste, warum. In zwei Stunden würde es dunkel sein. Trotzdem erzählte sie weiter:
»Im Märchen hat der Ring Aladin zweimal das Leben gerettet, zum ersten Mal, als er in einer Höhle gefangen war und die Hände faltete, um zum Allmächtigen zu beten. Da offenbarte sich der Geist des Rings und zeigte Aladin den Weg aus der Gefangenschaft. Beim zweiten Mal war Aladins Palast mitsamt seiner Frau und seiner Dienerschaft durch einen bösen Zauber nach Afrika versetzt worden. Da stand er am Ufer des Flusses und faltete die Hände, um ein letztes Gebet zu sprechen, danach wollte er sich in seiner unendlichen Trauer ertränken. Aber als er den Ring berührte, zeigte sich der Geist wieder und war bereit, Aladins Wunsch zu erfüllen und ihn wieder mit seiner geliebten Frau zu vereinen. Der Geist des Rings hatte nicht die Macht, alles ungeschehen zu machen und den Palast mitsamt der Frau und der gesamten Dienerschaft aus Afrika zurückzuholen, das konnte nur der Geist in der Lampe, und die Lampe war in Afrika. Aber der Geist des Ringes vermochte immerhin Aladin selbst in den Palast zu versetzen.«
»So viel weiß ich auch noch«, sagte Jonas.
»Tante Sunniva sagte immer, dem Ring sei die Macht verliehen worden, drei Wünsche zu erfüllen, damals, als er geschmiedet wurde, aber erst zwei davon seien verbraucht. Sie starb in der Überzeugung, der Trägerin des Ringes werde in einer Notlage so ziemlich jeder Wunsch erfüllt – aber eben nur dieses eine Mal. Sunniva selbst hatte nie einen Wunsch, der groß genug gewesen wäre, dass sie die Kraft des Ringes endgültig hätte aufbrauchen wollen, nicht mal, als sie im Sterben lag. Da hätte sie sich ja Genesung wünschen können. Aber sie hielt es für besser, diesen einen letzten Wunsch weiterzuvererben, bis irgendwann einmal sich jemand etwas so Großes, Dringendes wünschte, dass nur noch der Ring würde helfen können.«
Jonas stand auf und tigerte auf dem hölzernen Boden der Hütte hin und her. Am Ende zeigte er mit dem ausgestreckten Finger auf Nora und sagte: »Und diesen einen letzten Wunsch hast du geerbt?«
Sie sah ihn an – und nickte. Dann sagte sie müde, aber auch ein wenig triumphierend: »Ich hab ihn nur schon genutzt, Jonas. Es ist nichts mehr übrig. Ich hab den einen letzten Wunsch verbraucht. Oder eigentlich nicht jetzt, sondern in 72 Jahren, als es um unseren Planeten so schlimm stand, dass es in den alten Regenwäldern und Mooren, in den Prärien und Savannen so gut wie kein Leben mehr gab. Mein dringendster Wunsch war, der Welt noch einmal eine Chance zu geben. Aber dieser Wunsch war für den Ring leider eine Nummer zu groß. Und weil das so
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