2084 - Noras Welt (German Edition)
Familienbesitz war. Noras Urgroßmutter hatte Sigrid geheißen, und Sigrid hatte den Ring von der alten Tante Sunniva geerbt, der älteren Schwester, die nach Amerika ausgewandert war und sich dort mit einem persischen Teppichhändler verlobt hatte. Es war eine traurige Geschichte, sehr traurig, denn nur wenige Wochen nach der Verlobung, bei der Sunniva den prachtvollen Ring erhalten hatte, stürzte Esmail Ebrahimi, so hieß der junge Perser, von einem Raddampfer in den Mississippi und ward nicht mehr gesehen. Er war in den Fluss gefallen, oder jemand hatte ihn über Bord gestoßen, auch das wurde behauptet; denn der Teppichhändler hatte genug Perserteppiche für einen Basar mit an Bord gehabt, jedenfalls einen sehr hohen Stapel, und alles war verschwunden, bevor der Arme auch nur als vermisst gemeldet worden war. Tante Sunniva hatte danach genug von Amerika und kam kaum ein Jahr später zurück in ihre Heimat. Das Einzige, was sie mitbrachte, war der wunderschöne Ring. Und natürlich ihre Trauer, ihre endlose Trauer, denn Tante Sunniva war bis über beide Ohren in den galanten jungen Perser verliebt gewesen, so sehr, dass manche der bevorstehenden Eheschließung skeptisch gegenüberstanden und von »skandalösen Sitten« tuschelten. Aber der Ring war echt. Geheimnisvoll und in jeder Hinsicht unvergleichlich war der Ring mit dem roten Stein, und angeblich stammte er von Aladin, demselben Aladin, von dem in Tausendundeine Nacht berichtet wird. Behauptete jedenfalls Tante Sunniva. Und daran hielt sie fest, bis sie ebenso unverheiratet und kinderlos, wie sie aus Amerika zurückgekehrt war, an galoppierender Schwindsucht starb. Der Kummer, kein Kind zur Welt gebracht zu haben, quälte sie bis zuletzt; er war es auch, der sie so an ihrer Familie hängen ließ. Wieder und wieder beteuerte sie, wie unendlich gern sie denen etwas bedeuten wolle, die einmal nach ihr kämen. Sichtbarer Ausdruck dieses Wunsches waren die vielen Dinge, die sie für ihre zahlreichen Nichten und Neffen webte, klöppelte und stickte. Noras Großmutter war eine dieser Nichten gewesen und hatte die Kissen mit den Märchenmotiven geerbt. Und dann war da natürlich der Ring, das Kostbarste, was Tante Sunniva hinterließ. Er würde niemals zerbrechen. Er würde viele Generationen hindurch weitergereicht werden, und jetzt steckte er an Noras Finger.
Jonas zog ihre Hand näher zu sich heran und betrachtete den Rubin genauer. Er sagte: »Er ist wirklich unglaublich schön … man spürt irgendwie, dass er sehr alt ist, aus einer ganz anderen Zeit.« Dann schaute er Nora in die Augen. »Aber du willst nicht wirklich behaupten, dass er von dem Aladin aus dem Märchen stammt? War das nicht der mit der Wunderlampe?«
Sie nickte. »Sunniva ist mit nur 38 Jahren an Tuberkulose gestorben, und der Ring war der einzige sichtbare Beweis dafür, dass es ihre große Liebe wirklich gegeben und der Mann ihres Lebens sie wirklich über alles auf der Welt geliebt hatte. So einen Ring würde man schließlich nicht irgendeiner Bekanntschaft schenken, jedenfalls kann ich mir das nicht vorstellen. Es muss ein Verlobungsring gewesen sein, auch wenn Esmail beteuert hat, dass er über tausend Jahre alt ist.«
Jonas musterte sie forschend.
»Vielleicht hat er auch ein bisschen übertrieben. Vielleicht war die Tante ja ein bisschen gutgläubig?«
Nora schüttelte energisch den Kopf.
»Vor fünfzig Jahren wurde der Ring von einem norwegischen Juwelier untersucht, einem Spezialisten für orientalischen Schmuck. Der meinte auch, dass der Ring zumindest viele hundert Jahre alt sein muss. Er sagte, der Ring sei ganz sicher antik, und deutete an, dass so etwas eigentlich ins nationalhistorische Museum in Teheran gehöre. Was er auch herausgefunden hat, war, dass der Rubin mit seiner Farbe wie Taubenblut ursprünglich aus Burma stammen muss.«
»Aus Burma, okay – aber ja wohl kaum aus einem Märchen«, sagte Jonas.
Trotzdem erzählte Nora weiter und freute sich im Stillen darüber, dass Jonas offenbar doch von der Geschichte gefesselt war.
»Esmail kam aus einer alten Familie mit einer überlieferten Geschichte, die über viele Jahrhunderte zurückreichte. Und vor 800 Jahren hat in Persien nachweislich ein Aladin gelebt. Der Name bedeutet ›Hoheit des Glaubens‹, und es heißt, dieser Aladin habe ihn bekommen, weil er durch tägliche Gebete und Festhalten am Glauben an den Allmächtigen einen bösen Zauberer besiegte. Der Zauberer wollte ihn töten, angeblich wegen eines
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