2084 - Noras Welt (German Edition)
wirklich sehr gut. – Und wer soll so ein Projekt in Gang bringen?«
Von Jonas kam keine Antwort.
»Was hat deine Lehrerin gesagt? Welche Note hat sie dir dafür gegeben?«
»Sie fand das Referat originell und sprachlich gut, und mein Vortrag war angeblich mitreißend und flüssig. Sie hat mir eine Zwei gegeben und gesagt, eine Eins bekäme ich deshalb nicht, weil aus meinen Ausführungen nicht wirklich hervorgehe, wie man so etwas in die Tat umsetzen könnte. Sie meinte, meine Überlegungen brächten frischen Wind in die Debatte, aber sie seien sozusagen nicht ›geerdet‹.«
»So ungefähr würde ich das auch sehen.«
Kurz herrschte Schweigen zwischen ihnen, dann riss Jonas plötzlich die Augen auf.
»Moment mal … vergiss die Kataloge, Konten und den ganzen Überweisungskram. Es könnte alles auch nach einem ganz einfachen Mechanismus funktionieren …«
» Was könnte nach einem einfachen Mechanismus funktionieren?«
»Das Spiel an sich.«
»Aha?«
»Ich stelle mir grüne Automaten vor. Grüne Automaten überall dort, wo sich Menschen aufhalten, auf der ganzen Welt: in Flughäfen, an Straßenecken, in U- Bahn-Stationen … Du führst einfach deine Bank- oder Kreditkarte ein und gibst den Code der Art an, die du unterstützen willst – dafür gibt es Zahlen zwischen 0001 bis 1001. Gleichzeitig tauchen auf einem kleinen Bildschirm schöne Videoclips der gewählten Tier- oder Pflanzenart auf. Wie bei einer Art Bezahlfernsehen. So kannst du die Natur erleben, zu deren Schutz du beiträgst, und zugleich nimmst du an einer Unmenge verschiedener Spiele und Lotterien teil. Es gibt ein paar Milliarden Menschen und mehrere Millionen Tier- und Pflanzenarten, und wie ich in dem Referat geschrieben habe: Da müsste es doch möglich sein, ein bisschen Spiel und Spaß in die Sache zu bringen. Gamification könnte man dazu sagen …«
Nora seufzte. »Genau das hast du mir schon mal erzählt.«
»Nein! Auf die Idee bin ich eben erst gekommen.«
Wieder seufzte sie. »Dann hab ich davon geträumt.«
Noras Blick ging jetzt ins Leere. Ein paar Sekunden lang starrte sie einfach durch ihn hindurch.
»Nora? … Nora!«
Sie schaute ihm wieder in die Augen und sagte: »Ich kann nichts dafür, Jonas.«
HÜBSCHE FERIENHÄUSCHEN
Sie hat sich die Fingernägel rot lackiert und geht durch den Birkenwald. Eigentlich ein bisschen verrückt, sich die Nägel zu lackieren, bevor man in den Wald geht, denkt sie. Dort begegnet sie doch nie jemandem. Außerdem braucht sie die Hände vielleicht zum Zupacken.
Sie erreicht den Wald auf der ehemals kahlen Hochebene und nähert sich der alten Berghütte. Früher weideten hier oben zwischen Johannis und September Ziegen und Kühe. Vor dem Stall wühlten Schweine im Boden, und Hühner trippelten über den Hof. Die Schafe blieben den ganzen Sommer sich selbst überlassen und streiften durchs Gebirge, dort, wo jetzt der Wald steht.
Die alte Almwirtschaft ist nicht nur aus der Mode gekommen; sie wurde schlicht von der Natur verschlungen. Aber die Hütten stehen noch immer hinter überwucherten Mauern, wie kleine einladende Welten für sich. Einige der Hütten werden instand gehalten und als hübsche Ferienhäuschen genutzt; ein paar Familien sorgen auch dafür, dass auf den kleinen Höfen davor keine Bäume oder Sträucher wachsen.
Sie geht zwischen weißen Stämmen, springt über einen plätschernden Bach und freut sich über die vielen Geheimnisse, die sie vielleicht als Einzige kennt. Sie hört ein Rascheln im Gebüsch und entdeckt ein Reh. Sicher noch ein Kitz. Für eine Sekunde steht das Tier ganz still und sieht sie an. Gleich darauf ist es verschwunden.
Sie nimmt den letzten Anstieg zu der alten Berghütte hinauf. Sie will eigentlich hineingehen, aber als sie näher kommt, sieht sie durch die unterteilten Fenster, dass andere ihr zuvorgekommen sind. Hinter einem der Fenster kann sie Urgroßmutter Nora erkennen. Es gibt keinen Zweifel, dass es Nora ist. Sie hat jede Menge Fotos und Videos ihrer Uma als Teenager gesehen. Sie sieht auch einen Jungen in der Hütte, ebenso jung wie Nora.
Rasch schleicht sie vorüber. Sie will die jungen Leute in ihrer Zeit nicht stören.
ALADINS RING
Jonas griff über den Tisch nach ihrer Hand und begann, mit dem roten Ring zu spielen. Er bat: »Erzähl mir von dem Ring!«
»Dem im Traum? Oder dem aus dem Märchen von Aladin?«
»Ich meine den in der Wirklichkeit.«
Sie begann damit, dass der Ring seit über hundert Jahren im
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