2132 - Der Saltansprecher
schienen ihn kaum noch zu interessieren. Nur manchmal glitt sein Blick in den Gang hinaus, wenn einer der Mönche in schwerer Schutzkleidung an ihm vorbeiging.
Er ist kein Krüppel, dachte Jeke, als er an diesem Morgen die Tür zur Kammer öffnete, sondern ein Toter. „Guten Morgen, Tieger", sagte er betont freundlich in die Dunkelheit. „Ich hoffe, du hast gut geschlafen." Er stellte das Tablett auf dem Boden ab und entzündete den Docht einer Öllampe.
Es roch nach Schweiß und ungewaschener Kleidung. Tieger lag auf seiner Pritsche und starrte an die Decke. Seine Arme waren ausgebreitet, als wolle er die Stümpfe möglichst weit von sich entfernen. Selbst in dem schlechten Licht konnte Jeke sehen, wie blass und abgemagert er war. „Der Sturm, von dem ich dir gestern erzählt habe, hat nachgelassen, mein Sohn. Dem alten Wila ist das Dach weggeflogen. Du kennst ihn doch noch, oder? Er bringt immer die Yaga-Milch vorbei." Jeke setzte sich auf die Pritsche und rührte den Milchbrei in der Holzschale langsam um. „Jetzt muss er sich beeilen, damit alles vor der Regenzeit wieder in Ordnung kommt." Er hielt Tieger den Löffel an den Mund, aber der drehte nur den Kopf zur Wand. Innerlich fluchte Jeke. Manchmal ließ sich Tieger von den Erzählungen ablenken und merkte nicht, dass er dabei aß. Meistens lehnte er die Nahrung jedoch ab.
Jeke ließ die .Schale sinken. „Du musst etwas essen, Sohn, nicht nur für dich, sondern auch für La und das Kind. Willst du sie denn nicht wiedersehen?" Tieger drehte den Rest seines Körpers zur Wand. Seine Schulter stach spitz aus der Robe heraus. „Ich weiß, dass sie sich nicht gemeldet hat", sprach Jeke das aus, was Tieger ebenso beschäftigen musste wie ihn selbst, „aber ich bin sicher, dass es ihr und Rufas gut geht und sie einfach nur keine Möglichkeit gefunden hat, uns Bescheid zu sagen. Du musst daran glauben."
In Wirklichkeit hatte er die Hoffnung fast aufgegeben. La war bereits zu lange verschollen, und es gab nur wenige Orte, an denen sie sich aufhalten konnte. Die meisten wurden regelmäßig von Viehhändlern und Handwerkern bereist, sodass Informationen rasch in die Stadt zurückgelangten. Nur in die Bergdörfer gelangte fast niemand, aber Jeke zweifelte daran, dass Lo einen so strapaziösen Weg auf sich genommen hatte. Und selbst wenn sie noch lebte, wie würde sie darauf reagieren, dass der Vater ihres Sohnes ein Krüppel war? Er stand auf und stellte die Schale zurück auf das Tablett. „Ich komme später noch einmal wieder", sagte er.
„Vielleicht hast du dann ja wieder Hunger." Ohne die Tür zu schließen, trat Jeke in den Gang hinaus. Auf diese Weise gelangte wenigstens etwas Frischluft in die stickige Kammer. Die Tage, an denen sich Tieger völlig verweigerte, hatten zugenommen. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis er vor ihren Augen verhungerte. Vielleicht ist es so am besten, dachte Jeke, als er in den Gang zur Vorratskammer einbog.
Ein Prophet kam ihm entgegen, dicht gefolgt von einem Diener, der eine schwer aussehende Kiste auf dem Rücken trug. Jeke erkannte ihn, nickte kurz, dann kniete er routiniert nieder und senkte den Kopf. Die beiden so unterschiedlichen Pfauchonen gingen an ihm vorbei. Etwas fiel unmittelbar vor ihm auf den felsigen Boden. Jeke griff danach und wollte gerade den anderen Diener auf sein Versehen aufmerksam machen, als er sah, was er in der Hand hielt. Es war eine Schreibfolie, so, wie sie von fahrenden Händlern zur Kennzeichnung ihrer Waren verwendet wurde. Jemand hatte krude, kaum lesbare Buchstaben darauf geschrieben. Jekes Augen weiteten sich. Hastig steckte er die Folie in die Tasche seiner Robe, stand noch währenddessen auf und lief zurück zur Kammer.
Tieger lag immer noch zur Wand gedreht, als er eintrat und die Tür schloss. Mit einem Schritt erreichte Jeke die Pritsche und zog ihn an der Schulter auf den Rücken. „Lies das!", befahl er. Das Licht der Öllampe brach sich in der Folie. Tiegers starrte daran vorbei. Jeke ohrfeigte ihn. „Lies das!"
Fünfmal wiederholte er den Satz und die Ohrfeige, dann wandte sich Tiegers Blick endlich der Folie zu. Sein Mund bewegte sich, während er langsam und schwerfällig die Buchstaben entzifferte. „Lies es laut!"
„Es ... es ge-h... geht mir... und Rufa... Rufas!" Zum ersten Mal kam Leben in Tiegers Stimme. „Das ist von Lo."
Er setzte sich auf. „Es geht mir und Rufas ... gut. Wir ... sin-d in den Bergen. Alle ... sind sehr nett. Rufas ist ges-un... er ist
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