2132 - Der Saltansprecher
aber bis her gab es kein Anzeichen dafür. Trotzdem fragte Tieger jeden Tag nach. „Meinst du, es ist normal?"
„Ja, aber wir müssen noch warten."
„Wie lange müssen wir warten?"
„vielleicht ein halbes Jahr."
„Ist das lang?" Lo begann seine Schultern zu massieren. Es waren immer die gleichen Fragen und immer die gleichen Antworten, aber sie verlor nicht die Geduld. „Ich sage dir Bescheid, wenn es vor bei ist."Er legte seinen Kopf auf ihre Hand. „Ich bete jeden Tag darum."
„Die Götter werden nicht zulassen, dass ..."
Mit einem Knall flog die Tür auf. Holz zersplitterte, als sie aus dem Rahmen gerissen wurde und ins Zimmer fiel. Lo sprang instinktiv zurück, deckte die Wiege mit ihrem Körper, als fünf Propheten über die Schwelle traten. Sie trugen ihre traditionellen Schwerter und den Mishim im Gürtel. Rufas fing an zu weinen. Tieger war wie erstarrt.
Einer der Propheten, ein alter Mann mit langem weißem Haar, trat vor. „Es ist also wahr", sagte er. Sein Blick war nur auf Tieger gerichtet. „Du hast es tatsächlich gewagt, ein Kind mit dieser Hure zu zeugen!" Lo zuckte unter der Beleidigung zusammen, wehrte sich jedoch nicht. Tieger schien das Wort nicht zu kennen, denn er wirkte verwirrt. „Is unser Kind, Olibec", gab er zurück. „Du kannst es nich wegnehmen, nich wie gabraunizisz."
„Ich kann noch viel mehr." Der alte Mann, den Tieger als Olibec benannt hatte, legte seine Hände auf sein Schwert. „Du hast ein uraltes Gesetz gebrochen, das sollte dir klar sein. Wir Propheten vermehren uns nur untereinander, damit unsere Fähigkeiten erhalten bleiben. Das weißt du doch, oder?"
Tieger senkte den Kopf. „Hatte ich vergessen. Kommt nich wieder vor." Im Gegensatz zu Lo schien er den drohenden Unterton in Olibecs Stimme nicht zu hören. „Du hast das letzte bisschen Ehre in deinem Leben verspielt. Du hast dein Vergnügen über die Pflicht gesetzt. Es gibt nur eine Möglichkeit, deine Seele zu retten." Lo nahm Rufas aus der Wiege und presste ihn an ihre Brust. Sie ahnte plötzlich, was geschehen würde. Tieger sah auf. „Wie denn?" Olibecs Gesicht zeigte keine Mimik. „Töte dein Kind!", sagte er.
Tieger starrte die fünf Propheten an, wartete darauf, dass sie lachten und mit Fingern auf ihn zeigten, so, wie sie es immer taten, wenn er auf einen ihrer Scherze hereingefallen war. Aber sie taten es nicht, standen nur ruhig da, die Hände auf ihre Schwerter gestützt. „Das tu ich nich", sagte er.
Olibec sah die anderen kurz an, bevor er sich wieder an Tieger wandte. „Wir haben abgestimmt und beschlossen, dass es so sein wird. Wenn du es nicht machst, werden wir das Kind töten. Zwischen diesen beiden Möglichkeiten musst du dich entscheiden."
Tieger hörte Los hektische Atemstöße hinter sich. Rufas hatte aufgehört zu weinen. Nur zwei Möglichkeiten, dachte er.
Aber ich will keine von beiden. Ich will, dass mein Kind lebt. Kopfschmerzen stachen in seine Schläfen. Er musste sich zwischen zwei Alternativen entscheiden, die er beide nicht wollte. Hieß das nicht, dass es noch eine dritte geben musste, eine, in der sein Kind überlebte? Aber Olibec hatte sie ihm verschwiegen. Warum? Tieger sah ihn an. Es fiel ihm schwer, dem Befehl zu widersprechen. „Ihr tut mein Kind nich töten un ich auch nich.
Geht weg!"
Olibecs Gesicht verzerrte sich. Wut und Überraschung spiegelten sich darin, als er zurücktrat und die vier anderen Propheten mit einer Geste zum Ziehen ihrer Schwerter aufforderte. Tieger dachte an die Geschichten der Saltans. Sie warteten nie, bis ihre Gegrier bereit waren, sondern griffen als Erste an, unbarmherzig und wild.
Die Erinnerung gab ihm Mut. Mit einem Schrei warf er sich vor, den Propheten entgegen. Seine Fäuste schlugen zu, spürten harten Widerstand und wurden zur Seite gerissen. Sein ganzes Körpergewicht presste er gegen die Angreifer, drängte sie von Lo und sei- „nem Sohn zurück. In der Enge des Raums behinderten sich die Propheten gegenseitig. Sie wagten kaum, ihre Schwerter zu benutzen, traten und schlugen stattdessen nach ihm. Tieger stöhnte, als ein Tritt ihm das Gleichgewicht raubte. Er schlug auf dem Lehmboden auf, kam hoch und wurde von einem zweiten Tritt zu Fall gebracht.
Wie ein Wahnsinniger ruderte er mit den Fäusten, wusste längst nicht mehr, wo hinter all den Tritten und Schlägen seine Gegner steckten. Etwas traf ihn am Kopf. Seine Arme wurden schwer, der Raum. verschwamm. Er hörte sich selbst schreien, als seine Knochen
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